Weltraumschrott: Rasende Geschosse im All - DER SPIEGEL

2022-08-20 00:28:29 By : Ms. Alisa Xiong

Was fliegt nicht alles durch den Kosmos! Trümmerteile von Raketenstufen, Abdeckkappen, Sprengbolzen, Farbpartikel, Spannbänder, Schrauben und Schraubendreher, Tropfen von Kühlflüssigkeit, Kupferdrähte, Fetzen aus Folien zur Wärmeisolierung, Schlacke aus Feststofftriebwerken ... Sogar ein Handschuh trudelte im Jahr 1965 ein paar Tage lang in der Schwerelosigkeit. Den hatte US-Astronaut Ed White bei einem Weltraumspaziergang verloren.

All dieser Müll treibt nicht etwa gemächlich durch den luftleeren Raum. Er rast mit typischen Orbitalgeschwindigkeiten von mehreren Kilometern pro Sekunde um den Erdball. Deshalb ist er nicht nur ein kosmetisches Problem, sondern wird zunehmend zur Gefahr für die Raumfahrt.

Am 21. Oktober des vergangenen Jahres zum Beispiel sah sich die Nasa dazu veranlasst, ihren Satelliten Terra auf ein kosmisches Ausweichmanöver zu schicken. Der Grund: Terra - ein technisches Prunkstück, das brillante Fotos von der Erde schießt - hätte sich zwei Tage später dem Trümmerteil einer Scout-G-1-Rakete bis auf fünfzig Meter nähern können. Die Wahrscheinlichkeit einer Kollision betrug eins zu hundert. Das Ausweichmanöver vergrößerte den minimalen Abstand auf beruhigende 4000 Meter.

Vor zehn Jahren, am 24. Juli 1996, kam es zur ersten bestätigten Karambolage zwischen einem Satelliten und einem registrierten Stück Weltraumschrott: Der französische Spionagesatellit Cerise (französisch für Kirsche) stieß 700 Kilometer über dem Boden mit einem Teil einer Ariane-Raketenstufe zusammen. Der Aufprall erfolgte mit einer Geschwindigkeit von 14 Kilometern pro Sekunde und ließ eine sechs Meter lange Stange zerbrechen, die den Satelliten wie ein Ausleger stabilisierte. Einem Hammerwerfer ähnlich, dem plötzlich sein Wurfgerät abhanden kommt, begann Cerise zu taumeln. Nur eine neu eingespielte Bordsoftware konnte den Satelliten wieder stabilisieren.

Von zahlreichen Kollisionen mit kosmischen Müllteilchen zeugten auch die Solarpaneele des Weltraumteleskops Hubble, die 2002 auf die Erde zurückgeholt wurden. Auf ihrer Gesamtfläche von 41 Quadratmetern hatten die Partikelchen Tausende Einschlagkrater hinterlassen. Das 0,7 Millimeter dicke Paneel war insgesamt 174-mal durchlöchert worden. Die größten Krater hatten einen Durchmesser von acht Millimetern. Weltweit halten Radarteleskope und optische Sensoren Ausschau nach den gefährlichen Trümmern. Sie erspähen allerdings nur die dicken Brocken, Teilchen mit einem Durchmesser unterhalb von zehn Zentimetern entgehen ihnen meist.

Gelegentlich werden sogar irdische Astronomen, die überhaupt nicht auf der Suche danach sind, mit Weltraumschrott behelligt: Reflektierende Trümmer hinterlassen auf Astrofotografien manchmal lange Lichtspuren. Die Nasa sammelt Beobachtungen von kosmischen Schrottteilen im " US Space Surveillance Network  ". Bis heute haben die Fachleute 9500 Objekte gezählt, die einen Durchmesser von mehr als zehn Zentimetern besitzen. Nicht nur sie sind gefährlich: Bereits Teilchen mit nur einem Zentimeter Durchmesser entfalten bei dem typischen Aufpralltempo die Wirkung einer explodierenden Handgranate. Hunderttausende solcher Partikel sausen um den Erdball - wie viele genau, weiß man nicht.

Zum Glück bleiben nicht alle Trümmer auf ewig oben. "Im vergangenen Jahr sind etwa zweihundert uns bekannte Ojekte abgestürzt", sagt Heiner Klinkrad, Raumfahrtingenieur am europäischen Raumfahrtkontrollzentrum Esoc in Darmstadt. Die meisten davon seien verglüht.

Der Eintritt in die Atmosphäre beginnt dabei schleichend: In den erdnächsten Umlaufbahnen, wenige hundert Kilometer über dem Boden, herrscht kein perfektes Vakuum - dort sind vereinzelte Gasmoleküle und Atome unterwegs. Wenn Satelliten oder Raketenreste hindurchrasen, werden sie langsam abgebremst. Sie sinken und treten irgendwann - mit immer noch gewaltigem Tempo - in die Erdatmosphäre ein, wo sie sich wegen der Luftreibung stark erhitzen.

In einer Höhe von achtzig Kilometern ist die Erwärmung so stark, dass die meisten Überbleibsel in kleinere Teile zerbrechen, die anschließend verglühen. Bis zum Boden gelangen vor allem hitzebeständige Fragmente von Satelliten und Raketenoberstufen. Wird der Absturz nicht gesteuert, können die Trümmer überall auf der Erde aufschlagen - teils mit Überschallgeschwindigkeit. Kleine Partikel schweben hingegen sanft wie Schneeflocken hinab.

Der Trümmerteppich erstreckt sich oft über Hunderte Quadratkilometer entlang der Flugbahn. Bei einem kontrollierten Absturz lassen die Raumfahrtexperten den Schutt zielgenau in unbewohnte Regionen stürzen. Vor allem die Ozeane auf der Südhemisphäre sowie der Pazifik sind beliebte Aufschlaggebiete.

Alle elf Jahre regnet es besonders viel Weltraummüll. Denn die Schuttwolken über unseren Köpfen werden auch vom Sonnenzyklus beeinflusst. "Zur Zeit des Sonnenfleckenmaximums registriert man am Boden eine Zunahme der Radiowellenintensität im 10,7-Zentimeter-Bereich", erläutert Klinkrad. Gleichzeitig nimmt die UV-Strahlung der Sonne zu. Sie wird in den oberen Schichten der Erdatmosphäre absorbiert, sodass diese sich erwärmen und ausdehnen.

Infolgedessen nimmt die Gasdichte in der Höhe zu und auf die dort kreisenden Trümmer wirkt eine größere Reibungskraft - der Weltraummüll wird in stärkerem Maß gebremst. "Man kann sagen, dass die erdnahen Umlaufbahnen alle elf Jahre von kleinen Objekten gereinigt werden", sagt Klinkrad.

Neuerdings gibt es einen zusätzlichen Effekt, der in die entgegengesetzte Richtung wirkt. Kohlendioxid in der Erdatmosphäre könnte die Lebensdauer von Satelliten und Schrottteilen verlängern, berichtet Hugh Lewis von der University of Southampton (Großbritannien). Während das Treibhausgas die Troposphäre erwärmt - jenen zwölf Kilometer dicken, untersten Bereich der Atmosphäre -, kühlt es die darüberliegenden Schichten ab. Denn wenn die Kohlendioxidmoleküle in der dortigen dünnen Luft mit Sauerstoffmolekülen zusammenstoßen, senden sie infrarote Strahlung aus und verlieren Wärmeenergie. Dies könnte dazu führen, dass die Temperatur der oberen Atmosphärenbereiche bis zum Jahr 2100 um fünfzig Grad Celsius abnimmt.

Die Luft zwischen 200 und 1200 Kilometern Höhe würde sich dann zusammenziehen. Lewis vermutet, dass die Gasdichte in der oberen Thermosphäre, der zweitäußersten Atmosphärenschicht, in hundert Jahren nur noch die Hälfte des heutigen Werts betragen könnte. Weil dadurch die Reibungswirkung auf kreisende Satelliten und Trümmer abnimmt, verlängert sich deren Verweilzeit im erdnahen Orbit. "Besonders groß ist der Effekt für Umlaufbahnen zwischen 250 und 700 Kilometer Höhe", sagt Lewis. In manchen Orbits könne die Zahl von Objekten, die einen Durchmesser größer als ein Zentimeter haben, um das Dreifache anwachsen.

Ein weiteres Problem droht. Wenn die Entstehung von Weltraummüll nicht energisch bekämpft wird, könnten die Kollisionen lawinenartig zunehmen. Es käme zu einem Kaskadeneffekt: Wenn die Trümmer zusammenstoßen, zerbrechen sie und es entstehen zahlreiche neue, die wiederum mit anderen kollidieren. Zwischen 1991 und 2005 gab es laut Nasa bereits drei Karambolagen zwischen registrierten Schrottteilen.

Die Gefahr solcher Kollisionskaskaden kennt man vor allem aus Computersimulationen, die das Verhalten des Weltraummülls vorausberechnen können. Solche Simulationen werden zum Beispiel an der Technischen Universität Braunschweig durchgeführt. In die Berechnungen fließen reale Beobachtungsergebnisse ein, wodurch sie ziemlich wirklichkeitsnah werden, sagt Carsten Wiedemann, der dort eine Arbeitsgruppe leitet. "Wir berücksichtigen auch Teilchen, die nur ein tausendstel Millimeter groß sind", erläutert er. Die Forscher bedenken zum Beispiel, dass auf Satelliten wie Hubble viele tausend Krater gezählt wurden. Nur wenn die Computersimulation eine vergleichbare Einschlagzahl liefert, ist sie realistisch. "In hundert Jahren könnte der Kaskadeneffekt eine wichtige Rolle für die erdnahe Raumfahrt spielen", sagt Wiedemann.

Fachkollegen sehen das ähnlich. Schon Mitte des 21. Jahrhunderts könnte ein Zustand erreicht sein, wo sich der Weltraummüll im Zuge ständiger Kollisionen fortlaufend selbst vermehrt, berichteten Jer-Cyi Liou und Nicholas Johnson von der Nasa unlängst im Wissenschaftsmagazin "Science". In tausend Kilometer Höhe habe die Trümmerdichte schon heute die kritische Schwelle überschritten, so Liou und Johnson. Die Zusammenstöße dort erzeugten ebenso viele neue Partikel wie durch Abwärtsdriften verloren gingen.

Wenn man weiß, wie viel Schutt den Satelliten, der Internationalen Raumstation (ISS) und den Spaceshuttles dort oben "um die Ohren" fliegt -, liegt es dann nicht nahe, sie vor Kollisionen zu schützen? Das kommt darauf an, antwortet der Physiker Frank Schäfer vom Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, dem Ernst-Mach-Institut (EMI, Freiburg). In der bemannten Raumfahrt gebe es verbindliche Sicherheitsvorschriften, die konsequent umgesetzt würden. Doch bei den unbemannten Satelliten sei das anders.

"Wegen fehlender Vorschriften versehen nur wenige Hersteller ihre Satelliten mit einem Schutzschild", so Schäfer. Dabei nähmen diese das Risiko in Kauf, dass Trümmereinschläge auf Satelliten zu Störungen und Ausfällen führen. Die Hersteller wögen das Risiko gegen die Kosten für Schutzmaßnahmen ab. Hinzu käme, dass sich manche Teile von Raumfahrzeugen, etwa Optiken oder Radarschirme, nicht gegen Einschläge schützen ließen.

Die einfachste Variante eines Schutzschilds ist eine Aluminiumplatte von einem Millimeter Dicke, die wenige Zentimeter vor die Außenwand des Raumschiffs montiert wird. Heranrasende Schrotteile können sie zwar leicht durchschlagen, zersplittern jedoch dabei (siehe die Bildfolge unten auf dieser Doppelseite). Es entsteht eine Wolke aus feinsten Fragmenten, die sich aus festen, gasförmigen und flüssigen Anteilen zusammensetzt und die eigentliche Raumschiffwand nicht mehr so leicht durchdringen kann.

"Das europäische Columbusmodul, das voraussichtlich bald an die ISS koppelt, soll so gut geschützt sein, dass Teilchen von etwa einem Zentimeter Durchmesser kein Loch in seine Hülle schlagen können", sagt Schäfer. Ein einfacher Aluminiumschirm reicht dafür nicht, denn die Partikel nähern sich mit bis zu 15 Kilometer pro Sekunde - mehr als 15-mal so schnell wie eine Gewehrkugel. Darum setzt das Fraunhofer-Team auf weitere Schutzschichten zwischen Aluplatte und Raumschiffwand.

Diese Schichten bestehen aus Kevlar, einem Bestandteil schusssicherer Westen, und Keramikgewebe. Die Freiburger Forscher testeten den mehrlagigen Schutzschild mit Hilfe von Leichtgaskanonen, die Aluminiumkügelchen auf bis zu zehn Kilometer pro Sekunde beschleunigen (siehe rechtes oberes Bild). Verblüfft stellten sie fest, dass die größte Gefahr nicht von den besonders schnellen Geschossen ausgeht, sondern von den etwas langsameren. Der Grund: Teilchen, die mit etwa drei Kilometer pro Sekunde angeschossen kommen, zersplittern nicht. Sie bleiben intakt und durchschlagen den Schild daher relativ leicht.

Die Tests ergaben, dass ein sicherer Aufprallschutz gegen Trümmer, die größer sind als ein Zentimeter, nicht möglich ist, zumindest nicht bei vertretbarem technischem und finanziellem Aufwand. Als besonders tückisch erweisen sich Teile mit Durchmessern zwischen 1,5 und 5 Zentimetern. Sie durchdringen sowohl den Schutzschild als auch die Modulwand, sind aber zu klein, um von Radaranlagen entdeckt zu werden - man kann ihnen also nicht gezielt ausweichen.

Wenn solch ein Trumm die Wand der Raumstation durchschlägt, ist das entstehende Loch nur eines der Probleme. Der Druck in der Station würde recht langsam sinken und das Loch ließe sich womöglich stopfen. Auch der beim Einschlag auftretende Lichtblitz wäre vermutlich relativ ungefährlich. "Allerdings könnte der Knall ziemlich laut sein, je nachdem, wie groß das Teil ist", sagt Schäfer. Und die in der Station umherfliegenden Splitter könnten Geräte beschädigen oder Astronauten verletzen.

Seit einigen Jahren denken Experten wegen des wachsenden Risikos für die Raumfahrt über die Vermeidung und die Beseitigung des Mülls nach (siehe AH 6/2004, S. 32). Es müsste zum Beispiel verhindert werden, dass Raketenstufen mit Treibstoffresten im All explodieren, wie das nach wie vor geschieht. Eine andere Methode besteht darin, ausgediente Satelliten auf "Friedhofsorbits" zu verschieben - eine Art Abstellgleis im All. Auf diesen Bahnen, typischerweise in 2400 Kilometer Höhe, bewegen sich nur wenige andere Objekte, sodass Kollisionen unwahrscheinlich sind. Einige Fachleute schlagen vor, die orbitale Verweildauer aller Satelliten nach Ende ihrer Mission auf 25 Jahre zu begrenzen.

Das Problem wird damit allerdings nur aufgeschoben. Die Nasa-Experten Liou und Johnson warnen, irgendwann müsse die Müllmenge im All wirklich abnehmen, sonst sorge der Kaskadeneffekt für eine katastrophale Selbstvermehrung des Schrotts. Derzeit fassen sie drei Varianten ins Auge, um wenigstens die großen Objekte aus den am häufigsten benutzten Orbits zu entfernen:

So faszinierend diese Methoden klingen mögen - derzeit sind sie allesamt zu teuer beziehungsweise nicht effizient genug. Bis eine praktikable Lösung gefunden ist, bleibt das Parken von Satelliten auf Friedhofsorbits die einzige Möglichkeit, die Zahl der Schrottpartikel im All niedrig zu halten. Auch künftig dürften Fluggeräte auf erdnahen Umlaufbahnen noch so manche Schramme davontragen.

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