Fortsetzungsroman – Lesen Sie die neuste Folge von «Die Baronin im Tresor» | Berner Zeitung

2022-07-15 20:05:23 By : Mr. Andy Yang

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Doch einen Monat nach dem Attentat von Sarajevo begann am 28. Juli 1914 der Grosse Krieg. Meldungen über Mobilmachungen und Antikriegs-Demonstrationen gaben sich die Klinke in die Hand. Am 4. August überrannten die deutschen Truppen Bettys Heimatland, am 20. August marschierten sie in Brüssel ein. Auch in Frankreich wüteten die Deutschen, was Betty noch mehr in Rage brachte und ängstigte.

Betty und Miriam sassen in Frankfurt fest und sorgten sich um ihre Familien in der Heimat. Gefangen im Feindesland las Betty die Meldungen über die deutschen Feldzüge und hörte solche Parolen wie ‹Wir müssen siegen!›. Claude telegrafierte ihr, dass sich Henri bereits Mitte ­August als Übersetzer bei den Verbündeten, der englischen ­Armee, gemeldet hatte; freiwillig im Dienst der Tradition und des Vaterlands.

Ihre Abneigung gegenüber ­ihrer Familie, deren einzige Sorge Henri war, und der Hass auf alles, was mit dem Deutschen Reich zu tun hatte, verstärkte sich mit jedem Tag. Sie zog sich wie früher als Mädchen in ihre eigene Welt zurück. Rudolf sah sie kaum. Als Offizier war er, wie sie zufälligerweise einmal erfuhr, unter anderem in der Türkei eingesetzt.

In Frankfurt, der Stadt, in der Bettys Ururgrossvater Mayer Amschel kurz vor seinem Tod 1812 gerade noch die Gleichstellung der Juden und die Befreiung aus dem Ghetto an der Judengasse miterlebt hatte, verschlechterte sich die gesellschaftliche Stellung für die Juden wieder.

Zwar mangelte es Betty und Ferdinand wegen des Krieges trotz Schwarzmarkt und Beziehungen an Lebensmitteln, doch hungern wie andere mussten sie nie. Selten verliess Betty das Haus, verfolgte aber täglich das Geschehen. Sie bekam mit, dass die Frauen vielmals die Arbeit der eingerückten Männer über- nahmen und für das Überleben der Familien sorgten. Dass sie in den Lazaretten aushalfen und dass sie protestierten, um in der Öffentlichkeit ihre Rechte einzufordern. Sie erinnerten Betty an ihre Tante Aline. Gerne hätte sie die Frauen unterstützt, doch für sie war es undenkbar, sich zu ­exponieren und sich aktiv ein- zusetzen – keinesfalls als Vertreterin der Rothschild-Dynastie und erst recht nicht in Frankfurt.

Inflation, Völker- und Ausländerhass, Mangel, Rüstungsmaschinerie, Unterernährung, Entbehrung sowie Angst vor dem Umbruch in der Gesellschaft waren in aller Munde. Betty verunsicherte, dass alte Ordnungen zu zerfallen drohten. Überall rüttelten Revolutionäre an den Machtverhältnissen und wollten die Aristokratie zu Fall bringen. Doch trotz Krieg hielt das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Frankfurt nie ganz still: Die Theater, Cafés und Restaurants waren geöffnet, auf der Rennbahn galoppierten die Pferde und die Kunstschulen setzten den Unterricht fort.

Die Vorstellung, dass sich ihr Bruder und Rudolf bewaffnet gegenüberstehen und der eine auf den anderen womöglich würde schiessen müssen, war ihr Albtraum. Gedichte schreiben war ihre Rettung und Ferdinand ihr einziger Lichtblick.

Bei schönem Wetter spazierte sie mit ihm auf den geschwungenen Wegen neben exotischen Bäumen und über die Wiesen im Park des Palais an der Bockenheimer Landstrasse, dann und wann im Park der Grüneburg oder im umliegenden Palmen- garten. Wegen seiner Pausbäckchen, die sie an Seifenblasen erinnerten, und weil er gerne im Wasser planschte, mit seinen Händchen auf die Wasseroberfläche schlug und sich endlos darüber freute, wenn dabei Bläschen entstanden, nannte Betty ihren Sohn ‹Bubbles›.

Von Claude erfuhr sie, dass Henri angeschossen worden war, jedoch rasch wieder einrückte. Er wolle im Kampf gegen die Deutschen zur Infanterie, telegrafierte ihr die ältere Schwester aus Paris. Sie habe es nicht verhindern können.

1915 starb mit 66 Jahren Bettys Tante Alice, Vaters älteste Schwester. Wegen des Krieges musste Betty der Beerdigung fernbleiben. Bald darauf war sie, mittlerweile 21-jährig, ein weiteres Mal schwanger. Doch sie verlor das Kind, bevor jemand überhaupt von der Schwangerschaft erfuhr. «Sie dürfen niemandem etwas verraten», befahl sie ihrer Kammerzofe, die ihr zusammen mit Ferdinands Gouvernante die vertrauteste Person in Frankfurt geworden war.

Die belgische Armee ernannte Henri, den dünnen, feingliedrigen und musischen Edelmann, zum Adjutanten. Ihm wurde das Kommando der gepanzerten Fahrzeuge der Dritten Division anvertraut und er wurde zum Einsatz nach Westflandern be­ordert.

Betty versuchte so gut es ging, mittels Telefon oder Korrespondenzen zu erfahren, wie es ihrem Bruder und ihrer Familie erging. 1916 meldete sich Henri für einen Einsatz an der Front und wurde im Gefecht schwer verwundet. Nach seiner Operation reiste er zur Genesung nach Paris, wo die Mutter sich wegen des Krieges ohnehin mehrheitlich in ihrem Hotel und bei ihrer Familie aufhielt. Alles drehte sich um den verletzten Henri. Mutter blieb mit Nesthäkchen Renée bei ihrem einzigen Sohn. Auch Vater sorgte sich um ihn, hielt sich des­wegen vermehrt vom Geschäftsleben in Brüssel fern und weilte stattdessen bei seinen Liebsten in der französischen Metropole. Bei Betty meldeten sie sich nie.

Bettys Mutter bekamen die Aufregungen nicht. Seit wenigen Monaten war sie schwer krank. Untröstlich über den verletzten und gebrochenen Henri, starb sie im Alter von 53 Jahren am 16. August 1916 in ihrem Hotel Parisien. Renée war siebzehn, Betty zweiundzwanzig. Der Tod der Mutter, die Betty seit ihrer Verheiratung ein einziges Mal gesehen hatte und der sie immer noch übelnahm, dass sie ihre Ehe nach Frankfurt zugelassen hatte, war für alle ein Drama.

Martha tritt aus dem Haus und schaut sich stirnrunzelnd um. Der Rauch in der kühl-feuchten Herbstluft irritiert sie. Da entdeckt sie ihren Hans im Garten neben der Villa der Madame. Er wirft Dinge in ein Feuer, eilt unentwegt zur Loggia hin und mit Dokumenten und Gegenständen in den Händen wieder zurück zu den lodernden Flammen.

Sie rennt zu ihrem Mann und streckt dazu die Arme in die Luft. «Hans, Haaaans! Was machst du nur?», schreit sie und kann ihm gerade noch ein paar Fotos und Postkarten entreissen. Aufgeregt wedelt sie mit einem Bild vor seinem Gesicht herum. «Siehst du das? Die Baronin in jüngeren Jahren und der Baron mit der kleinen Ynes.»

Mit aufgerissenen Augen betrachtet sie die anderen Fotos: das Herrschaftsgebäude, der Ehrenhof, Kinder im Garten, das Bassin, der Park, der Kanal, in dem früher noch viele verschiedene Fische, Schlangen und Fischotter schwammen. Sie streckt ein paar ausgewählte Aufnahmen mit Personen zu ihm hin. «Da sind wichtige Leute zu sehen. Greta Garbo, hier, oder Grace Kelly – und da, Marc Chagall.» Sie nimmt weitere Abzüge von der Beige an sich und zeigt auf weitere Gäste der Baronin. «Sieh her, das ist einer dieser amerikanischen Offiziere während des Krieges. Und das ist der hochgewachsene Musiker, der oft hier war. Und hier sitzen Diplomaten von überallher in ihrer Loggia.»

Martha kann es kaum fassen. Solch wertvolle Fotos will ihr Mann vernichten. Erinnerungen an die Baronin, für die sie bereits vor dem Krieg als Bedienstete ­tätig war. «Hans, hast du den Verstand verloren? Wieso verbrennst du all diese Sachen?» Im letzten Augenblick rettet sie ein in gelbes Leder gebundenes dickes Gästebuch vor den Flammen. Sie reisst es hoch und hält es vor ihre Brust.

Er fährt sich durch die Haare und runzelt die Stirn.

«Madame will es so. Sie hat Wucher damit beauftragt, mir diese Aufgabe zuzuteilen.» Dass er kürzlich schon einmal Liebesbriefe, ein altes Gästebuch, Akten, Holzrahmen und Fotos, die er im Estrich der Baronin gefunden hatte, verbrennen musste, verschweigt er seiner Frau.

«Dieses Gästebuch musst du unbedingt zurück auf den Tisch im Vestibül legen!»

Martha und Hans stehen nebeneinander am Feuer und beobachten die Flammen, die knackend und zischend die persönlichen Objekte der Baronin in Asche verwandeln.

Starr gefroren liegt ihr Körper im schwarzen Nichts. In einem Stahltresor, der sie zu ersticken droht. Sie sieht nichts, sie ist eingesperrt. Geschützt und isoliert zugleich. Sie möchte fliehen, doch ihre Beine sind steif. Sie will sprechen, doch ihre Lippen sind hart. Sie hört ihr Herz hämmern. Fremde Stimmen dringen aus der Ferne zu ihr herein. Sie hört Scharniere, die quietschen. Die Schranktür wird geöffnet und gibt den dahinterliegenden Tresor frei. Endlich kommt jemand, um sie zu befreien. Keine Einsamkeit mehr in ihrem eigenen Gefängnis, in welchem ihre Gefühle für die Menschen unerreichbar sind. Erleichtert atmet sie auf.

Doch der Tresor bleibt verriegelt. Und sie gefangen in ihrem eigenen Panzer.

Betty schnappt nach Luft. Wieder dieser Albtraum. Nur zögerlich weicht das beklemmende Gefühl von ihr. Scrumpi, einer in einer Reihe von Welsh Corgi Pembrokes, ist vom Kissen am Boden aufgesprungen und kratzt mit seiner Vorderpfote am Ärmel ihres seidenen Nachthemds. Langsam beruhigt sie sich und streicht ihrem Hund über das hellbraun-weisse Fell. «C’est bon, tranquille. Va te coucher.»

Sie hört die Tritte von Scrumpis Pfoten auf dem Parkett und versucht, sich im dämmerigen Licht des anbrechenden Morgens zurechtzufinden.

Wieder dieser Traum. Sie hasst ihn. Eingesperrt im Korsett ihrer Disziplin, einem Panzer gleich, der sie gefangen hält wie in einem Tresor. Sie denkt an den dreiteiligen Koloss aus Stahl, den sie in der früheren Bettnische im heutigen Fumoir im Erdgeschoss einbauen und mit Schranktüren tarnen liess. 1923 war das; sie war gerade hochschwanger mit Ynes. Dort lagen nebst ihrem Schmuck die Briefumschläge mit den Löhnen für die Bediensteten, Bargeld für Rechnungen, Wertsachen – und während des Zweiten Weltkrieges zudem Lebensmittel vom Schwarzmarkt. In Zeiten der Judenverfolgung hätte sie sich oder Freunde auf der Flucht darin vor der Polizei versteckt. Daher nennt Betty ihn auch ‹Personentresor›.

Sie friert im Bett, zieht die Decke unters Kinn und starrt auf den weinrot-samtigen Baldachin über ihr. Wieso träumt sie diese immer gleiche Szene? Warum die Kälte? Die Mauern? Die Starre?

Während das Licht der aufgehenden Sonne zunehmend durch die Ritzen der Fensterläden in den Raum dringt, greift sie nach dem weissen Zündholzbriefchen neben dem Telefon auf dem Nachttisch. Ihr Name ist in Gold in den Karton eingraviert. Betty. Sie starrt auf diese fünf Buchstaben, als ob sie in ihnen die Geschichte ihres Lebens Revue passieren sähe. Der feuchte Herbstnebel hängt noch vor den Fensterscheiben. Ungeduld steigt in ihr hoch. Wo bleibt Joseph? Der Butler sollte einfeuern. Worauf wartet Edvige? Die Zofe müsste die Kleider richten und das Bad einlassen.

Sie schiebt die linke Hand zur kalten Bettseite hinüber und ­berührt ihre ‹Hermes›. Die Schreibmaschine ist ihre treue Begleiterin und ihr Draht zur weitverzweigten Welt ihres Bekanntenkreises und ihrer Verwandten. Der angefangene Brief an ihre Freundin Clarice ist eingespannt. Auf dem Papier ist rechts oben ‹BELLERIVE. GWATT près THOUNE (Canton de Berne). Téléph: 188› schwarz aufgedruckt.

Bettys Gedanken kreisen. Heute leitet sie den Abschied von ihrem ‹Gwatt› ein. So nennt sie ihren Sommersitz im Dörfchen mit dem Namen Gwatt am Rande der Stadt Thun. Vor 39 Jahren hat sie den südlichsten Berner Landsitz – die Campagne Bellerive – samt Park am Ufer des Thunersees ihrem Schwieger­vater abgekauft. Jetzt, mit 66, sagt sie Adieu.

Der Gedanke an einen Verkauf ist ihr erstmals vor drei Jahren gekommen. Wegen des zunehmenden Verkehrs verbreiterten die Behörden die Strasse, die seit 1672 als Karrenweg und seit 1820 als Landstrasse den Park vom Herrensitz trennt. Zudem bauten sie zu beiden Seiten des breiten filigranen Eisentors in den Ehrenhof dem Gehsteig entlang eine Mauer. Vermehrt langweilt sie sich und vieles ist ihr zu anstrengend geworden. Für die Einladungen, die Campagne und die Reisen in den Wintermonaten beschäftigt Betty manchmal bis zu zwanzig Bedienstete.

Bereits Ferdinand, ihr Sohn, hat ihr ans Herz gelegt, sich von ihrem Kleinod zu trennen: «Lange kannst du das ‹Gwatt› und deinen Lebensstil kaum mehr finanzieren», hallen seine Worte nach. Die kalkulierenden Worte eines Banquiers. Alles ist teurer, und das Geldanlegen weniger ertragreich geworden. Er hat recht, denkt sie. Jetzt ist es so weit. Sie, Betty Esther Charlotte Laure Lambert, geschiedene von Bonstetten und geschiedene von Goldschmidt-Rothschild, schlägt heute, Montag, ein neues Kapitel in ihrem Leben auf. Um dem Stadtpräsidenten von Thun und dem Regierungsratspräsidenten des Kantons Bern ihre Bedingungen für ihre Campagne darzulegen, hat sie die beiden Amtsvertreter zu sich bestellt.

Im Frühjahr wird sie nach Genthod in die Nähe ihrer Tochter Ynes ziehen. Die Villa ‹La Manne› mit Blick auf den Genfersee ist dank einer Heizung ganzjährig bewohnbar und der perfekte Ort für ihren Lebensabend.

1894, eine kleine Prinzessin in Brüssel

Im weissen Spitzenkleid kniete Betty auf dem Boden inmitten der Spielsachen aus aller Welt: eine Automatendose mit vier Musikern, ein reich gefülltes Puppenhaus, Bälle, Plüschtiere und eine Miniaturkutsche aus Blech. Ihre dunklen Locken fielen ihr über die Schultern, eine weisse Schleife steckte über ihrer hohen Stirn. In einer Hand hielt Betty den ledernen Zügel eines geschnitzten Holzpferdes, dessen Mähne aus echtem Haar den Hals bedeckte. Vor ihr lagen Bilderbücher, neben ihr sass Fluffy, ihr kleiner Jagdhund.

«Bald ist es so weit, nur noch ein paar Mal schlafen, dann sind wir bei Ihren Cousinen in Paris», hörte sie ihre Gouvernante Rahel sagen, die stets bei ihr war, sie beobachtete und kontrollierte. «Baronesse, Sie sind bald bei Sybil, Antoinette und Marguerite.»

Betty nickte, wollte ein starkes Mädchen sein und hielt ihre Tränen zurück. «Niemand ist da, um mit mir zu spielen, liebes Pferdchen, lass uns ausreiten», flüsterte sie und zupfte am Zügel. Dann fragte sie ihre Gouvernante: «Oder kommt Claude bald wieder zurück, um mir vorzulesen?»

Rahel schüttelte den Kopf. «Der Lehrer unterrichtet noch Ihre ältere Schwester. Doch Baronesse Claude kommt bestimmt am Abend zu Ihnen.»

Betty hob die Puppe hoch, die auf ihrem Knie lag, drückte sie fest an sich und summte ihr ein Liedchen. Die mit Rüschen verzierte Haube lag am Boden. Betty hatte sie vom Kopf gelöst. Als sie draussen im Korridor Schritte hörte, hielt sie den Atem an. Dazu kraulte sie Fluffy den Kopf.

«Das ist Ihre Mutter», erklärte Rahel, als sie Bettys Unruhe bemerkte. «Freuen Sie sich. In Paris wird ein Fotograf euch vier Prinzessinnen ablichten.»

Rahel war eine der Dutzenden von Bediensteten, die als Gouvernante, Butler, Zofe, Chauffeur, Koch, Büglerin oder Wäscherin die ihnen zugeteilten Aufgaben erfüllten. Strenge Regeln wie am Hofe und wie für die Rothschild-Dynastie üblich bestimmten den Tag, die Erziehung und jeden Handgriff.

Bettys Eltern waren Léon Lambert aus Brüssel und Zoé Lucie Betty Baronesse de Rothschild aus Paris. Er war Banquier, Rothschild-Agent und Financier des belgischen Königs Leopold II. Zudem war Bettys Vater Präsident des Israelitischen Zentralkonsistoriums in Belgien und damit der ranghöchste Jude im Land – und hatte daher das höchste Amt in der Vertretung jüdischer Belange in Belgien inne. Bettys Mutter war die älteste Tochter von Gustave, mit vollem Namen Gustave Samuel Baron de Rothschild. Er war der mittlere Sohn von James, ihrem Urgrossvater. Mit 19 war James als Jakob und jüngster der fünf Söhne von Dynastiebegründer Mayer Amschel aus dem Frankfurter Ghetto nach Paris gekommen, verzichtete jedoch sein Leben lang auf die französische Staatsbürgerschaft.

Betty erhob sich, ging zu Rahel und legte ihren Kopf auf ihren Schoss. «Ich würde gerne mit anderen Kindern spielen. Wieso darf ich das nicht?»

Die Gouvernante fuhr mit der Hand über Bettys Wange und nahm die Bürste vom Frisiertisch, um ihr das dichte Haar zu kämmen.

«Darf ich heute, wenn Vater heimkommt, nur dieses eine Mal, mit ihm am Tisch essen? Nie ist er da, und Maman nimmt mich nie in den Arm.»

Rahel zupfte Bettys Röckchen gerade. «Vielleicht dürfen Sie der Baronin wieder einmal beim Malen zuschauen, ich werde ihre Zofe fragen.»

Gustave de Rothschild war seinem Schwiegersohn Léon Lambert ein väterlicher Freund. Gustave war es auch, der die Ehe mit Léon und seiner Tochter Lucie arrangiert hatte. Bettys Mutter war eine Künstlerin. Sie zeichnete und malte gekonnt Porträts. Täglich dirigierte Lucie, einer Unternehmerin gleich, eine Schar Bedienstete und erfüllte jegliche Pflichten einer Gastgeberin in Rothschild’scher Verschwiegenheit und Perfektion. Als sie Betty am 22. März 1894 zur Welt brachte, war sie einunddreissig und ihr Gatte Léon dreiundvierzig. Bettys Altersunterschied zu den ­älteren Geschwistern war gross. Ihre Schwester Claude war bereits zehn und Bruder Henri sieben.

Die Familie lebte in Brüssel in einem Stadtpalais, dessen Kauf Gustave ermöglicht hatte, mit geräumigen Zimmern, hohen Decken, langen Korridoren und Zimmerfluchten. An den Wänden hingen Gemälde und Kunstwerke, in den Bibliotheken reihte sich Buch an Buch. Schwere Sekretäre, flauschige Fauteuils und Antiquitäten aus aller Herren Ländern schmückten die Räume, die im Winter durch das Feuer im Kamin warmgehalten wurden. Stuckaturen verzierten die Decken, an denen riesige Kronleuchter hingen. Überall dekorierten Skulpturen, Porzellan und Blumen die Gemächer.

Im Stadtpalais befand sich zugleich Vaters Bank. Léon unterstützte König Leopold II. dabei, dem noch jungen Staat Belgien zu mehr Grösse zu verhelfen und dessen privaten Freistaat im Kongo zu errichten. Dafür hatte der König ihn 1896 in den Adelsstand erhoben, und Léon, wie viele der Männer in seinen Kreisen ein Freimaurer, erhielt den Titel eines Barons.

Betty sprang früh aus dem Bett. Am Abend zuvor waren sie aus Brüssel mit dem Zug angereist und mit der Kutsche, die von glänzenden Rappen gezogen wurde, durch die kalte Nacht zu Grossvaters Stadtpalais in der Pariser Innenstadt gefahren worden. Auf den Strassen lag Schnee, und Betty hatte sich vorgestellt, wie sie einen Schneemann bauen würde. Vor dem Einschlafen hatte Rahel ihr angekündigt, sie würde mit den Cousinen frühstücken. Nun wartete sie auf die Gouvernante, die sie ankleiden und mit ihr hinunter an den Tisch gehen würde. Als es klopfte, hüpfte Betty zur Tür.

«Bonjour, Baronesse», begrüsste Rahel sie.

Betty sah in ihrem Gesicht sofort, dass alles anders sein würde – wie so oft. Deshalb stemmte sie die Hände in ihre Hüften und sagte voller Stolz: «Ich habe meine Vorfreude gezügelt, Rahel. Die Cousinen werden bestimmt später eintreffen – oder nicht?»

Rahel kniete zu ihr hinunter, was sie sonst nie tat. «Baronesse», murmelte sie, und Betty wusste, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. «Ihre Tante, Baronin Juliette, ist gestern verunfallt. Deshalb werden Sie Antoinette und Marguerite, Ihre beiden Cousinen, erst in ein paar Tagen sehen. Nur Ihre Cousine Sybil wird beim Frühstück auf Sie warten.» Sybil war die Tochter von Aline, der älteren Schwester von Bettys Mutter, die in London lebte. Sybil war wie Betty drei Jahre alt. Bettys Tante Juliette starb an den Folgen des Sturzes.

Betty war ein lebhaftes Mädchen, quirlig, lustig, aufgeweckt, wild und fröhlich. Doch dies sollte ihr abgewöhnt werden. Prinzessinnen müssen jede Benimmregel strikt einhalten, hörte sie unentwegt. Niemals am Tisch die Ellbogen aufstützen, lachen oder sprechen – und schon gar nicht mit vollem Mund. Disziplin und Kontrolle waren oberstes Gebot. Sie, ein unbändiges, neugieriges Mädchen, durfte je länger, je weniger rennen oder gar reiten, sollte still sein, statt sich zu bewegen – das war für Betty schier unmöglich.

Von den Tätigkeiten des Vaters bekam sie wenig mit. Er war selten zu Hause, sondern oft für seine Geschäfte unterwegs. Als sie fünf Jahre alt war, durfte sie eines Tages mit ihren Geschwistern im Park von Tervuren anlässlich der Völkerschau drei kongolesische Dörfer mit echten Bewohnerinnen und Bewohnern anschauen gehen.

«Papa will, dass Claude und du den Besitz des Königs auf dem afrikanischen Kontinent kennenlernt. Deshalb gehen wir an die Weltausstellung am Rande der Stadt», sagte Henri und hiess Rahel, Betty für den Ausflug vorzubereiten.

Mit der Kutsche fuhren sie zusammen mit den Eltern und den Gouvernanten hin, stiegen aus und mischten sich unter die Menschenmenge.

«Diese Völkerschau ist modern und wichtig, um sich zu bilden», erzählte Henri, als sie vor einem der Dörfer und den fast unbekleideten Menschen stehen blieben. Betty staunte und wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Nie hatte sie andersfarbige Haut gesehen.

«Das sind echte Kongolesen, sogenannte ‹Wilde›, sagt Vater», erklärte Henri. «Papa hat mitgeholfen, diese Völkerschau für den König zu organisieren. Sie ist eine Attraktion dieser wichtigen Weltausstellung in unserer Stadt.» Zudem lasse Leopold II. derzeit ein königliches Museum für Zentral-Afrika und für Forschungen bauen. «Nächstes Jahr wird es eröffnet, und danach können wir Kunst aus dem Freistaat des Königs sehen.»

Betty wäre gerne wie andere Kinder gerannt. Sie langweilte sich. Bald brachte Rahel sie und Claude nach Hause, während Henri sich mit Vater, Mutter und anderen Leuten entfernte.

«Ich möchte bei ihnen bleiben», quengelte Betty. Doch als sie Rahels verengte Augen sah und eine Strafe fürchtete, liess sie sich in die Kutsche schieben.

Wie ihre Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern in Paris führte Bettys Mutter im Stadtpalais in Brüssel einen kosmopolitischen Salon, in dem sich Menschen aus nah und fern trafen. Zum Salon gehörte Lucies Galerie, in der sie eigene, aber ebenso Werke anderer Künstlerinnen und Künstlern ausstellte.

Wenn Mutter Besuch hatte, wäre Betty am liebsten dabei gewesen. Doch das war verboten, genauso wie das Mitessen am Tisch. Dabei hätte Betty gerne mit Claude und Henri gespiesen und den Gesprächen gelauscht. Doch alleine die Frage danach führte bei der Gouvernante zu einem Blick, der Bettys Hoffnungen sofort im Keim erstickte.

«Später, liebe Baronesse, wenn Sie älter sind», sagte diese jedes Mal.

Bettys Eltern sprachen Einladungen für Diners, literarische Treffen und Hauskonzerte aus. «Auch heute wird eine Gästeschar erwartet», kündigte Rahel Betty an, und sie wusste, dass sie isoliert bleiben würde. Manchmal schlich sich Betty auf den Korridor und kuschelte sich möglichst nahe der Tür zum grossen Salon auf einen Sessel. Sie liebte diese Atmosphäre. Aus ihrem Versteck beobachtete sie die Butler, roch den Tabak, hörte das Gekicher der behüteten Damen und ihre Gespräche über die neusten Modekreationen. Ihr war egal, dass die bärtigen Männer in ihren schwarzen Frackanzügen über Dinge sprachen, die sie nicht verstand. Sie fand es interessant, ihnen dabei verbotenerweise zuzuschauen, wenn sie im Fumoir Tabak schnupften und Zigarren schmauchten.

Wenn Betty die Schritte der Gouvernante näher kommen hörte, schlich sie sich wieder ins Zimmer. Vor allem aber fürchtete sie sich davor, dass ihre Mutter sie erwischen könnte. Nie vergass Betty das Bild, wie Mutter einmal mit hocherhobenem Rohrstock im Raum gestanden und mit der Gouvernante geschimpft hatte. «Ihr gehört eine Tracht Prügel.»

Sie fand die weitverzweigte internationale Verwandtschaft unüberschaubar riesig. Bei Familientreffen sass sie an langen Tischen inmitten ihrer Sippe. Manchmal konnte sie unter den gepflegten Damen in ihren üppigen Röcken nicht einmal mehr ihre eigene Mutter erkennen. Trotz oder gerade wegen des regen Treibens fühlte sich Betty oft verloren, einsam und nicht zugehörig.

Ständig reiste sie mit zu Verwandten und Freunden – von Brüssel nach London, nach Paris oder sonst wohin. So fuhr sie mit in die Schweizer Berge oder ans Meer, etwa nach Deauville, Biarritz und Knokke-le-Zoute. Manchmal war sie dabei, wenn Familienmitglieder Pferderennen und Polospiele besuchten, verfolgte die Jagd in Grossvaters Park oder besichtigte in den Gestüten der Verwandten die Fohlen. An hohen Feiertagen musste Betty zusammen mit den Geschwistern in die Synagoge.

Claude und Henri waren Bettys Vorbilder. In ihrer älteren Schwester sah sie gar eine mütterliche Vertraute.

Betty schlüpfte morgens manchmal zu Claude unter die warme Decke und schaute der Zofe zu, wie sie ihnen beiden das Frühstück auf dem Tablett servierte. Ihre grosse Schwester las gerne und brachte die Leute zum Lachen; insbesondere dann, wenn Mutter weit weg war. Betty liebte es, mit Claude im Bett zu verweilen, und stellte ihr wissbegierig Fragen. Eines Tages nahm Betty allen Mut zusammen und wollte von ihrer Schwester erfahren, weshalb Mutters Bauch kugelrund war. «Wie schlimm steht es um Maman?», fragte sie besorgt.

«Oh, das musst du sie selbst fragen», antwortete Claude zu ihrer Überraschung. Sonst wusste ihre Schwester stets eine Antwort. «Vielleicht hat der Koch den Teig zu lange stehen lassen, dass er Mutter zum Platzen bringt», sagte Claude mit weit geöffneten Augen und schmunzelte dazu. Betty erschreckte diese Vorstellung.

«Das war nur Spass», beruhigte Claude ihre Schwester. «Frag Rahel, dann klärt sich alles. Komm, lass uns jetzt frühstücken.»

Nur wenige Tage später eilte der Arzt ins Haus und brachte eine Frau mit. «Das ist eine Hebamme», versuchte Claude Betty verständlich zu machen und verschwand mit der Frau zu Mutter ins Zimmer.

Betty musste draussen bleiben und hörte Mutter stöhnen.

«Komm, wir gehen, das verstehst du mit deinen fünf noch nicht», sagte die Gouvernante und nahm sie bei der Hand. Betty hätte in ihrem Salon spielen sollen, doch sie war viel zu aufgeregt und zu irritiert und fragte sich ständig, was mit Mutter war.

Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, ging die Tür auf. Claude streckte ihren geröteten Kopf ins Zimmer und verkündete: «Wir haben ein Schwesterchen. Renée heisst es.»

Betty freute sich, durfte allerdings das Baby nur ab und zu mit ihrer Gouvernante besuchen. «Schau, wie süss», frohlockte die Amme ihrer kleinen Schwester, während sie Renée schaukelte und an ihrer Brust trinken liess.

Wegen des Altersunterschieds zu ihren Geschwistern war Betty nun noch mehr alleine und auf sich gestellt. Immer mehr erschuf sie sich ihre eigene Fantasiewelt, in die sie sich zurückzog. Sie lernte, ihre Gefühle hinter einer Maske und beherrschter Körperhaltung zu verstecken.

Ein Knall reisst Betty aus ihren Erinnerungen. Erschrocken setzt sie sich auf und schaut sich um. Doch sie hört nur die gewohnten Geräusche der Bediensteten. Den Boden, der unter ihren Tritten knarrt, das Gemurmel, wenn sie miteinander sprechen. Ein vertrauter Klangteppich. Büglerinnen und Wäscherinnen im Dachgeschoss, Gärtner im Park und vor der Loggia, der Chefkoch in der Küche, der Chauffeur und Gutsverwalter bei seinen Kontrollgängen.

Kritisch kontrolliert sie den roten Lack auf den Nägeln und ignoriert, dass das Rauchen gelbe Spuren auf ihren Fingern hinterlässt.

Noch immer liegt sie im Bett. Sie hasst es aufzustehen, wenn es im Zimmer kalt ist. Und ebenso, wenn sie auf Bedienstete warten muss. In solchen Momenten fahren ihre Gedanken Karussell und durch ihren Kopf jagen Schreckens­gespinste, die das Altern seit ­Kurzem bei ihr auslöst: die Angst vor Demenz und Gebrechen. Oder die Befürchtung, dass ihre Nächsten dereinst ihrer Beerdigung fernbleiben und froh über ihr Ableben sein könnten. Betty konzentriert sich auf ihre bevorstehende Woche des Abschiednehmens. Es weckt in ihr Un­behagen. Ab morgen werden jeden Tag mehr Verwandte ins ‹Gwatt› reisen. Sie werden verdrängte Erinnerungen und ihre Abneigung gegen ihre Familie wachrufen. Sie weiss schon jetzt, dass die Enkelkinder sie ärgern werden, wenn sie unartig sind. Das erträgt sie kaum. In solchen Momenten fühlt sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie den unverhandelbaren Regeln ausgeliefert war und jeder Verstoss zur Folge hatte, dass sie gezüchtigt wurde. Ihre Enkelkinder indes müssen weder Strafen mit Worten noch mit harter Hand aushalten. Das findet sie falsch – und korrigiert diesen Missstand mit der ihr in der eigenen Kindheit anerzogenen Disziplin, Zucht und Ordnung. Zudem stört Betty, dass sie in ihren Enkelkindern die Welt ausserhalb ihres Universums erkennt und dass mit ihr dereinst dieser Zeitgeist und ihre Lebensgeschichte verschwinden werden.

Sie wendet sich unter der ­Decke zum Fenster hin und schaut Scrumpi zu, der im Kissen eingerollt wieder eingeschlafen ist und leise schnarcht. Sie seufzt.

«Edvige, Edviiiige!», ruft Betty nun ungeduldig ihre erste Kammerzofe herbei. Endlich hört sie das Stakkato ihrer Tritte lauter werden. Dann das kurze dreimalige Klopfen.

Scrumpi knurrt, doch seine Rute trommelt freudig.

«Bonjour, Madame la Baronne», sagt die Zofe, als sie durch die Doppeltür tritt, sich mit einem Knicks hinstellt und auf die Anweisungen des Tages wartet. Verspielt umrahmen die grau-braunen Locken das sonnige Gesicht der Italienerin, die wie üblich unter der weissen Spitzenschürze ein graues Kleid und auf dem Kopf die weisse Haube trägt.

Nur Edvige, Joseph und der Chefkoch, den alle ‹Chef› nennen, dürfen in Bettys Anwesenheit in ihr Schlafgemach. Die drei sind es auch, welche als einzige aller Bediensteten mit ihr nach Genthod ziehen werden.

«Joseph wird gleich einfeuern und Ihnen das Früstück bringen.» Edvige lächelt verunsichert. «Ein strahlender Spätherbsttag. Merveilleux! Die Sonne hat den Schnee vom Samstag auf den Wiesen bereits geschmolzen!»

«Très bien. Sehr gut.»

Täglich bespricht Betty mit ihrer Zofe Kleider, Schmuck und Schuhe, bestellt Coiffeur, Schneider oder Masseur. Sie fordert von allen absolute Perfektion, stets taktvolles und unauffälliges Verhalten. Kein Wort im falschen Moment, kein Lächeln zu viel, keines zu wenig. Sie duldet kein Staubkörnchen, weder auf den Parfümflakons auf ihrem Frisiertisch noch sonst irgendwo im Haus. Die Seidenstrümpfe und die Schuhpaare gehören stets je in ein eigenes Säckchen zurück. Jeden Tag frische Bettlaken, für jede Aktivität die passenden ­Kleider.

Sie will endlich aufstehen. «Bereiten Sie mein Bad vor! Heute ist ein aussergewöhnlicher Tag.» Edvige macht einen Knicks.

«Um elf Uhr kommt der Friseur, um zwei Uhr trifft mein Besuch ein.» Betty wirft die Decke zurück. «Et puis, chère Edvige, schicken Sie mir bitte Joseph. Pour le petit déjeuner. Ich will frühstücken.»

Als sie sich umdreht und aus dem Raum geht, kündigt sie den Butler an und hält Joseph die ­Türen zum Schlafzimmer offen.

«Bonjour, Madame la Baronne! Was für ein wundervoller Tag heute.»

Betty lächelt und beobachtet den hochgewachsenen, schlanken Belgier mit Stirnglatze, der seinen Beruf des möglichst unsichtbar-lautlosen livrierten Dieners in weissen Handschuhen leidenschaftlich gerne zelebriert. Mit ausladender Bewegung positioniert er das Frühstück auf der Bettdecke.

Sie mustert das Tablett. Schwarztee, frisch gepresster Saft und hellbraune Toasts ohne Kruste. Geräucherter Lachs, sämiger Camembert aus der benachbarten Käserei, gepellte runde Tomätchen und frische Kräuter aus dem Garten. «Très bien, merci.»

Sie spricht mit ihren Bediensteten Französisch und will möglichst auch in ihrer Muttersprache angesprochen werden. Mit Gästen und Freunden wechselt Betty allerdings fliessend zwischen Französisch, Englisch und Deutsch. Italienisch und Spanisch versteht sie problemlos – mittlerweile gar den Schweizer Dialekt. Doch dessen rauen Klang verabscheut sie. Was hingegen kaum jemand mehr weiss: Betty hat als Kind auch Flämisch verstanden. Doch nur, wenn sie an ihre heimliche Jugendliebe denkt, erinnert sie sich an diese Sprache.

Kurz nachdem Joseph das Zimmer verlassen hat, hört Betty die melodiöse Stimme ihres Chefkochs aus Rom hinter der Tür. «Madame la Baronne?» Jeden Morgen erwartet sie seine gute Laune.

Mit Schwung tritt der ‹Chef› ins Schlafzimmer und bleibt mit dem Rücken zur Türe stehen. Wie immer sitzt die weisse Kochmütze leicht schräg. Die weisse Schürze hat er um seinen beleibten Körper geschnürt. «Bonjour, Madame la Baronne», begrüsst der nahezu zwei Meter grosse Italiener sie mit seinem Lächeln, welches die Lücken zwischen seinen zu klein geratenen Zähnen entblösst.

Sie nickt und beobachtet den Maestro, der fast gleich alt ist wie sie.

Wie jeden Tag geht sie mit dem Küchenchef Gäste, Speisepläne und Einkäufe durch. Gemüse und Salatblätter müssen klein sein, die Ware frisch, und von allem will sie nur das Beste. Nur das Beste ist gut genug, so hat Betty es gelernt, so erwartet sie es. Wichtig sind ihr zudem Süssspeisen und niemals isst sie Knoblauch oder Reste.

Der Maestro zückt das Notizbuch und setzt mit einem Augenzwinkern den Stift zum Schreiben an. «Madame la Baronne, was darf ich heute für Sie und Ihren Besuch auf die Teller zaubern?»

Sie geht hinüber ins Zimmer neben dem Bad, wo Edvige auf sie wartet. Betty fühlt sich müde, angespannt und aufgekratzt zugleich. Müde vom Leben, von den Menschen, die ihre Manieren vergessen, oft ungenau, schludrig und unzulänglich sind. Aufgekratzt, weil die kommenden Tage sie mit der Vergangenheit konfrontieren werden. Sie sehnt sich nach innerem Frieden und Aussöhnung und stellt sich ans Fenster. Ihr Blick wandert hinüber zu ihrem Park, dem sie das Kleid eines englischen Landschaftsgartens mit exotischen Bäumen gegeben hat. Langsam steigt die Sonne am Horizont des klaren Herbsthimmels. Die wärmenden Strahlen verdrängen den Morgennebel und geben die Sicht über den See und bis zu den Bergen frei.

Betty schaut nach links hinunter zum Gebäude, wo über den Garagen mit ihren Limousinen ihr Gutsverwalter und Chauffeur Max Wucher und seine Frau wohnen. Max, ein Flugzeugmechaniker, den ihr Ferdinand 1936 vermittelt hat, reinigt die Weisswandpneus. Sie sieht ihn zwar nicht, doch sie hört sein Summen und den Schwamm, wenn er diesen ins Wasser im Kübel eintaucht. Ihr gehen die Worte von Mutter durch den Kopf: «Vergiss nie: Sie sind die Dienstboten, und wir sind wir.»

Im graublauen Deux-Pièces und mit der silbernen Perlenkette um den Hals geht Betty hinaus in den Korridor. Seidene Strümpfe schmeicheln den schmalen Fesseln und Beinen, der eng anliegende Rock betont die schlanke Figur. Sie steigt die geschwungene Treppe hinunter. Jeder Tritt trifft die Mitte des roten Teppichläufers auf den Stufen. Dazu gleiten ihre langen Finger über das schmiedeeiserne Geländer, bis ihre Füsse in den ledernen Salvatore-Ferragamo-Ballerinas auf dem Marmorboden im Vestibül aufsetzen. Sie saugt den Duft des pastellfarbenen Strausses aus exotischen Blumen ein, die ihr Gärtner für sie züchtet. Die Vase steht auf dem Tisch neben ihrem Gästebuch, das in gelbes Leder gebunden ist. In jedem Moment und in jeder Bewegung dieser Tage steckt ein Hauch des letzten Mals.

Sie lässt sich von Joseph in den Mantel helfen. Ihr morgendlicher Spaziergang über den Rundweg im Park ist Tradition. Der Dose auf dem Tisch entnimmt sie eine lange dünne Vogue und das Mundstück. Als der Butler ihr das Hauptportal öffnet, rennt Scrumpi an ihr vorbei ins Freie. Der kurzbeinige Hund ist einer von vielen, die stets mit Betty gelebt haben, manchmal waren es drei und mehr Tiere gleichzeitig. Pudel, deutsche oder belgische Schäferhunde und vor allem Welsh-Gorgis.

Im Peristyl stellt sich Betty zwischen die Säulen. Tief zieht sie den blauen Rauch ein. Die majestätische Aussicht, die sich ihr von dieser Stelle aus zum Park und über den Kanal bietet und am Horizont mit dem Oberländer Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau endet, dürfte ihr am meisten fehlen. Wenn die Türen in der Villa beidseitig geöffnet sind – im Vestibül und auf der hinteren Seite im Gartensaal –, erstreckt sich von der westseitigen Allee bis zum Kanal­ende eine monumentale direkte Linie von 550 Metern Länge.

Zielstrebig geht sie über den Kies im Ehrenhof, den ‹Cour d’Honneur› im Osten des Herrengebäudes. Scrumpi bei Fuss hält sie kurz auf dem Gehsteig, überquert die Hauptstrasse und betritt den Park. Das Sonnenlicht spiegelt sich in der Sonnenbrille, von denen Betty Dutzende besitzt und die sie bereits getragen hat, als im Dörfchen noch kaum jemand wusste, dass es so etwas überhaupt gibt.

1904 zog Claude nach Paris. Betty war zehn Jahre alt, als Vater die Ehe zwischen ihrer älteren Schwester und dem Banquier Jean Stern in Paris arrangierte. Claude heiratete in der Synagoge in Brüssel am 8. März 1904 und zog danach in die Metropole der Mutter.

Betty stand inmitten ihrer Cousinen in der Synagoge und wimmerte leise, was wegen der lauten Männerstimmen ohnehin niemand hörte. Wie würde Betty in Brüssel ohne ihre Schwester zurechtkommen. Niemand kümmerte sich an der Feier um Betty. Sie sah Claude und beobachtete sie unter der Chuppa, dem Traubaldachin. Sie feierte und sang mit, doch ihr war nicht zum Lachen zumute.

Der Abschied von Claude war für Betty einschneidend, was sie mit jedem Tag mehr und mehr realisierte. Sie hatte ihre zehn Jahre ältere Schwester verloren und blieb in Brüssel zwischen ihrer fünfjährigen Schwester Renée und dem siebzehnjährigen Bruder Henri verloren zurück. Nichts vermochte sie zu trösten, auch nicht Claudes Brautstrauss, den sie nach dem Fest behalten durfte. 16 Monate später brachte Claude in Paris ihre Tochter Simone zur Welt.

Ohne Claude, die ihr die Verwandten jeweils einzuordnen half, fehlte Betty der Überblick über die Familienverbände. Sie konnte sich kaum alle Namen und Zugehörigkeiten merken. Der Druck daheim, sich von der kindlichen Prinzessin zur erhabenen Baronin zu entwickeln, langweilte sie. Lieber wäre sie unbeschwert und übermütig geblieben, statt im Gefängnis der eisernen und jüdischen Erziehung und des umfangreichen Unterrichts in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein. Sie gehorchte zwar artig, begann jedoch, sich immer mehr zu verschliessen. Sie versteckte sich hinter den Büchern und dem Lernen.

Sie las, lernte und liess sich belehren. Sie spielte In­strumente, obwohl es ihr keine Freude bereitete. Doch je mehr sie versuchte, ihren Vater zu beeindrucken, desto mehr ignorierte er sie, fand Betty. Nie gab sie allerdings die Hoffnung auf, dass er sie eines Tages loben und sie wie Henri mit ausser Haus nehmen würde, um ihr zu zeigen, was er tagein, tagaus tat. Der Drill war der Tradition geschuldet, wie eine Rothschild-Tochter zu sein hatte: ­beharrlich und neugierig bleiben, hart arbeiten, Spitzenleistungen anstreben, die Welt zu einem besseren Ort machen. Die besten Manieren waren höchstens gerade gut genug: die passende Kleidung, die treffenden Worte, die richtige Hunderasse, das stilgerechte Vokabular. Alles musste korrekt und perfekt sein. Gefühle zu zeigen, gehörte sich nicht, Diskretion war Ehrensache. Benehmen und Manieren sollten die Familie von den übrigen Gesellschaftskreisen abheben. Umso mehr empfand es Betty als ungerecht, dass ihre fünf Jahre jüngere Schwester Renée, das Nesthäkchen, einer weitaus weniger rigorosen Erziehung folgen musste.

Zwar bekamen Söhne und Töchter eine gleichwertige Ausbildung, doch der Herr des Hauses musste in den Mittelpunkt gestellt werden. Betty lernte: Den Männern gehörten Glanz und Bühne, das erste und letzte Wort. Eine Frau hatte den Mann glücklich zu machen.

Um eine gewinnbringende Verheiratung generationenübergreifend zu sichern, sorgten die Eltern für die edelste Schulung des Verhaltenskodex ihres Standes. Sie umfasste das Wissen um höfisch-royale Zeremonielle, gesellschaftliche Bräuche und ungeschriebene Konventionen sowie jegliche Rang- und Tisch- ordnungen auf jedem Parkett, ob jene des Hochadels, des Kaisers oder der Diplomatie.

Nur selten durfte Betty das Haus verlassen – und nie ohne Begleitung. Gerne hätte sie ihre langen Haare offen getragen, sich mehr draussen im Park und unter Leuten aufgehalten. Ihre unbändige Lebenslust passte ­ihrer Mutter nie. Die Baronin kümmerte es nicht, dass sich ihre nun älteste Tochter des Hauses alleine fühlte. Ihr manchmal eisiger feindseliger Blick liess die Gouvernanten Betty mit standesgemäss disziplinarischer Hand erziehen und die polyglotte Bildung kontrollieren. Wenn Mutter etwas nicht passte, züchtigte sie Betty, stellte sie bloss oder bestrafte sie, selbst vor allen am Tisch, an dem sie nun als ältere Tochter hin und wieder wie die Erwachsenen essen durfte. Manches Mal hob Mutter sogar den Stock drohend in die Luft. Betty fürchtete sich vor ihr.

Eines Tages, als Betty den Eindruck hatte, ihre Mutter sei gut gestimmt, wagte sie sich, sie um Hilfe zu bitten. «Maman, würden Sie bei passender Gelegenheit Vater fragen, ob ich ihn ab und zu begleiten dürfte und er mich wie Henri in das Bankenwesen einführen würde?»

Sie bereute ihre Frage sogleich, denn Mutter schimpfte mit ihr, wie sie es noch nie getan hatte. Ihre Stimme tönte wie Peitschenhiebe.

«Wie immer», keifte sie, «zeigst du weder Manieren noch Respekt. Nie wirst du eine richtige Baronin, die weiss, was sich gehört. Es wird Zeit, dass ich dafür sorge, dass du an den richtigen Platz kommst. Dein scharfer Verstand und dein logisches systematisches Denken sind deine Feinde.»

Betty zitterte am ganzen Leib und verkrampfte sich zu einer steifen Statue.

«Ja, ich werde mit Vater reden, aber anders, als du es dir vorstellst», beendete Mutter das Gespräch, nun ruhiger, und befahl der Gouvernante, Betty ins Zimmer zu bringen.

Jegliches Missachten der ungeschriebenen Regeln wurde zurechtgewiesen. Jedes Wort musste Betty mit Bedacht wählen, über Probleme oder Gefühle zu sprechen, war undenkbar. Sie lernte, sich stets zu kontrollieren. Niemals durfte sie im Sitzen die Beine übereinanderschlagen. Jeder Schicksalsschlag musste erhobenen Hauptes ertragen werden und das Äusserliche hundertprozentig stimmen. Niemals durfte sie weder bei sich noch bei anderen Menschen eine Unvollkommenheit tolerieren.

Besondere Tage für Betty waren, wenn Tante Aline, Mutters Schwester aus London, und deren Tochter Sybil zu Besuch waren oder Betty gleichzeitig mit ihnen in Paris bei ihren Grosseltern Cécile und Gustave weilte. Da Alines Mann, Sir Albert Abdullah David Sassoon, politisch und geschäftlich weitum engagiert war, reiste Bettys Tante oft ohne ihn. Aline nahm Betty gerne mal in die Arme, las ihr vor, erzählte ihr von sich und ihren Abenteuern; etwa jenen, in denen sie die Frauen und ihre Rechte zu stärken half. Aline war im Gegensatz zu ihrer Mutter modern, was Betty sehr imponierte; sie war für Betty das Vorbild einer rebellisch-kämpferischen und unabhängigen Frau. Betty wollte so werden wie sie.

Doch ihre Eltern setzten auf eine traditionelle universitäre Bildung. Auch das Zedaka-Gebot, eine uralte jüdische Tradition der religionsgesetzlich verankerten sozialen Mildtätigkeit, war zentral, gleichsam Kunst und Musik. Die exklusivsten Lehrer unterrichteten Betty als Heranwachsende im Stadtpalais in Mathematik, Französisch und Englisch in Wort und Schrift; ebenso in den Themen Wirtschaft, Geografie und Politik. Pflichtstoff waren weiterhin Völkerkunde und -recht, Geschichte und Allgemeinwissen, Literatur, die jüdische Religion und jüdische Traditionen.

Obwohl sie musisch wenig ­talentiert war, lernte sie weiterhin Cembalo, Geige und Harfe spielen und bekam Unterricht in klassischer Musik. Immer mehr fragte sie sich, was eigentlich ihre Aufgabe sein würde und wofür sie da sei, wenn sie nicht wie Henri in der väterlichen Bank und in Geschäften tätig sein dürfte.

Stattdessen musste sie werden, was sich für eine Dame des Hauses ziert: manierlich, grazil und humorvoll, eine perfekte Gastgeberin. Häkeln, musizieren, malen und lesen galt als standeswürdig, dagegen kam kochen oder haushalten niemals in Frage. Betty verinnerlichte das Einmaleins einer brillanten Hausherrin. Sie lernte die Qualitäten, die es braucht, um Bedienstete anzuleiten und einen kulturellen Salon zu führen, der dem Geistigen und Musischen gleichermassen diente wie der Politik und der Macht.

Einem Beruf gleich studierte Betty ein, was dies hiess: liebenswürdig und fähig sein, sich für alle zu interessieren, den Anwesenden die volle Aufmerksamkeit zu schenken, verschiedenartige, aber sich Verstehende zusammenzubringen und die Anwesenden geistig anzuregen. Es galt, die Geschichten der Gäste zu memorieren und mit Humor eigene einzubringen, Gespräche im Fluss zu halten und die psychologische Seite der ­Politik zu beherrschen. Lehrer befähigten Betty darin, Beziehungen zu knüpfen, um einen ausserordentlich intelligenten und weltbewegenden Einfluss auf die Ereignisse zu erwirken.

Dies alles bezweckte letztlich, dem Mann jene Welt zu schaffen, die er sich wünscht und ihm und seinen Geschäften dient. Die Mädchen mussten perfekte Frauen und ausserdem gesunde starke Mütter werden – von möglichst männlichen Stammhaltern.

Zurück vom Spaziergang mit Scrumpi im Park betritt Betty die Loggia, wo die Sonne sie durch den Mantelstoff hindurch wärmt. Die gedeckte Terrasse an der Südfassade der Herrschaftsvilla ist einer ihrer Lieblingsorte und ein Knotenpunkt beim Kommen, Gehen und Verweilen.

In den letzten 39 Jahren, in denen ihr das ‹Gwatt› gehört, treffen sich in den wärmeren Mo­naten in der Loggia oder im ­Garten, umgeben von Clematis und Rosen, Freunde und Verwandte von überallher. Meistens blieben sie für ein paar Stunden, manchmal blieben sie mehrere Tage und übernachteten bei ihr. Oft war den Gästen ein Leben im Exil gemein: die diplomatische Welt oder ihre Wurzeln aus hochadligem Hause. Betty legte Wert auf das standesgemässe Benehmen und die nötige Bildung. Nationalität, Religion oder sexuelle Ausrichtung eines Menschen spielten für sie hingegen keine Rolle. Ebenso wenig liess sie sich beeindrucken, wenn rassisch oder politisch Verfolgte bei ihr zu Gast waren.

Bei Betty trafen sich Prinzessinnen, Grafen und Künstler ­genauso wie Diplomaten, Flüchtlinge, und Judenretter oder US-Geheimdienstoffiziere, Wimbledon-Tennisspielerinnen und Autorennfahrer. Vom französischen Maler Marc Chagall über die schwedisch-amerikanische Leinwandlegende Greta Garbo und den deutschen Schriftsteller Carl Zuckmayer, vom georgisch-russischen Pianisten Nikita Magaloff über die Fürstin Elsa von Liechtenstein zum monegassischen Fürst Rainier, vom deutschen Widerständler Alexander von Stauffenberg bis zum US-amerikanischen Geheimdienstchef Allen Welsh Dulles – alle waren sie bei ihr zu Gast.

Sie hat die Signaturen im Gästebuch nie gezählt, jedoch die Seiten: 146. Sie weiss, pro Seite stehen zwischen drei und über zwanzig Unterschriften, was rechnerisch eine Zahl von insgesamt rund 1200 Personen ergibt. Einige Namen kommen zwar mehrmals vor, doch etliche Anwesende haben sich im Gästebuch nie verewigt. Ihr Gästebuch von 1922 bis 1936 hat sie längst im Feuer verbrannt, wie sie dies mit anderen wichtigen Dingen bereits ein Leben lang tut.

Claude wird Betty nicht mehr im ‹Gwatt› besuchen. Ihre ältere Schwester aus Paris hat letztmals vor zwei Jahren in einem der Korbstühle in der Loggia gesessen. «Meine Knochen sind jetzt zu alt und zu brüchig», sagte sie Betty beim Abschied. «Mir sind die Pferderennbahnen und meine Hunde und Pferde wichtiger als dein Paradies am See.» Betty wird deshalb im Winter zu Claude reisen. Betty war einsam und schrieb Gedichte.

Die Trennung von Claude ­katapultierte Betty rasch vom Mädchen zur heranwachsenden jungen Frau. Zunächst träumte sie noch davon, eines Tages die schönste Braut und eine glückliche Mutter von vielen Söhnen zu sein. Doch je mehr sie in ­Paris Claude mit Tochter Simone und daheim in Brüssel die Gouvernanten und das Nesthäkchen ­Renée beobachtete, desto verunsicherter wurde sie. Keinesfalls wollte sie Renée ein Mutterersatz sein, wie es Claude für sie selbst gewesen war – und sie begann zu zweifeln, ob sie überhaupt ­fähig wäre, jemals Mutter zu sein.

Sie versuchte, artig und folgsam zu sein und bei den jüdischen Feiertagen fröhlich zu wirken. Vater predigte stets die Wichtigkeit von Religion und ­Vaterland. Betty wollte ihm gefallen und rang um seine Aufmerksamkeit.

In dieser Zeit stürzte Henri in der Avenue Louise vom Pferd und verletzte sich schwer. Er erholte sich nur langsam. Nachdem er halbwegs genesen war, begab er sich auf seine ersten weiten Reisen und Abenteuer, über die er Reportagen in Vaters Magazinen verfasste und mit Fotos anreicherte.

Ihr Bruder war der einzige Stammhalter und daher der Liebling der Eltern. Den Söhnen gehörte die Welt ausserhalb des Hauses. Sie erbten mehr als die Töchter. Den Buben war alles ­gestattet, solange es den Traditionen und ihrer Rolle entsprach. Die Töchter durften beziehungsweise mussten in den Familiengeschäften im Hintergrund mitwirken und hatten ebenfalls zum Erfolg der Familie beizutragen. So hatte es der Dynastiebegründer, Bettys Ur­urgrossvater Mayer Amschel Rothschild, in seinem Testament festgelegt.

An diesem Rollenbild stiess sich Betty zunehmend. Frauen hatten zwar eine mit den Männern vergleichbar universitäre Bildung, besassen jedoch keine Rechte. Zudem endete der Eintrag im Rothschild-Stammbaum von Töchtern und deren Nachkommen mit der Verheiratung.

Betty beneidete und bewunderte Henri. Ihr Bruder konnte die Welt entdecken, Grosswild in Afrika jagen, der Tradition entsprechend Banquier werden und Geld verwalten, vermehren und zum Wohle der Gemeinschaft nutzen. Je öfter Henri unterwegs war, desto mehr verschlechterte sich Bettys Gemütslage. Während sie sich für Zahlen und Finanzgeschäfte interessierte und ihren Vater mit ihrem Können und ­ihrem Talent vergebens zu beeindrucken versuchte, entzog sich Henri geschickt Vaters Forderungen.

Einmal, als sie mit Henri im königlichen Park gegenüber spazieren gehen durfte, fragte sie ihn um Rat. «Ich möchte ein Junge sein, damit ich darf, was du tust. Bitte, nimm mich doch mit auf deine Reisen und lege bei ­Vater ein gutes Wort für mich ein, damit er mich wenigstens be­achtet.»

Henri schüttelte den Kopf. «Ma petite Betty, was du willst, ist unmöglich. Eine Frau hat ihren Platz, wie der Mann den seinen. Du darfst niemals eine Rothschild-Banquière sein.» Sie drehte sich wütend ab. Trotzig murmelte sie: «Und du wirst niemals jener grossartige Banquier sein, der ich wäre, du bist schwach und stehst niemals deinen Mann.» Sie fühlte die Hand ihres Bruders auf ihrer Schulter.

«Ich wünschte», hörte sie sein Flüstern in ihrem Nacken, «du könntest an meiner Stelle sein. Ich bin so unfrei wie du und muss Vaters Erwartungen erfüllen – und kann genauso wenig wie du eigene Träume leben.»

Niemand schien es zu bewegen, wie schwer es ihr fiel, dass sie daheim bleiben musste, als Henri 1909 – er war zweiundzwanzig und sie fünfzehn – für sieben Monate auf Reisen gehen durfte. Er weilte in Indien, ­China, Japan, Südafrika und Belgisch-Kongo. Betty, die Baronesse im goldenen Käfig, pubertierend und voller Abenteuerlust, musste zu Hause bleiben und lernen, eine perfekte Frau ihres Standes und Vertreterin der fünften Generation ihrer Dynastie zu werden. Niemand kümmerte es weiter, dass sie in ihrem Bett nächtelang um den Tod ihrer 46-jährigen Lieblingstante Aline im Juli desselben Jahres weinte.

Während eines Besuches 1910 in Paris bestellte Grossvater ­Gustave für ein Familienbild ­ einen Fotografen zu sich. Alle mussten sich entsprechend der Familienhierarchie positionieren: Geschwister, Eltern und Grosseltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins. Alle erhielten einen Abzug.

Betty fühlte sich wohl in Paris, wo ihr Grossvater mit Grossmutter Cécile im Stadtpalais an der Avenue de Marigny einen ­Salon führte. In seinem Schloss Ferrières, das sein Vater James etwas ausserhalb der Metropole erbaut hatte, hielten sie sich ­seltener auf.

Wenn Grossvater Gäste hatte, versteckte sich Betty – wie bei sich zu Hause – und versuchte, die Männer zu belauschen. Einmal hörte sie, wie Gustave den Gästen erklärte: «Wir Rothschilds engagieren uns für eine humanistische Welt und verdienen stilvoll unser Geld.» Oft zitierte er ihren Urgrossvater James mit Sätzen wie: «Wir führen keinen Krieg, sondern können den Frieden erhalten. Als ­unsere Pflicht erachten wir es ­zudem, Künstlern, Notleidenden und den Ärmsten zu helfen und Geld für den Bau von Synagogen, Spitälern oder Opernhäusern zu geben.»

Zwar waren die intimen Momente selten, in denen Grossvater ihr von seinem einflussreichen Vater James Baron de Rothschild erzählte und sie sich vergangene Zeiten ausmalen konnte. Doch sie liebte sie. «Mein Vater hatte einen klaren Tagesablauf: Von sechs bis halb acht liess er sich im Bett Zeitungen vorlesen. Danach frühstückte er, empfing die Sekretäre, erledigte die Geschäfts- und einen Teil seiner privaten Korrespondenz. Von halb zehn bis etwa elf empfing er die Kunst- und Raritätenhändler. Um elf begab er sich ins Büro, beriet die Wechselagenten und um ein Uhr kam er zum Essen heim.» Betty klebte jeweils an Grossvaters Lippen. «Dein Urgrossvater hat Anfeindungen in der Gesellschaft gegen Juden oder Intrigen gegen ihn oder die Dynastie überhört, so etwa, wenn er und seine Brüder zum Beispiel als ‹Banquiers der Könige› beschimpft worden sind», klangen seine Worte stets in ihren Ohren nach.

Betty kannte den weiteren Tagesablauf ihres Urgrossvaters James in- und auswendig. Um drei Uhr folgte die Wagenpromenade, danach schrieb er seine privaten Briefe zu Ende und signierte die Geschäftskorrespondenz. Um fünf Uhr ging er für eine Partie Whist in den Jockey-Klub, um sieben dinierte er, anschliessend besuchte er meist ein Theater.

Auch die Dynastiegeschichte mit ihren Begründern Mayer ­Amschel – bis 1802 Meyer Amschel – und Gutle Schnapper und deren fünf Töchtern und fünf Söhnen, den ‹fünf Frankfurtern›, kannte sie. Ihre Urgrossmutter, Gustaves Mutter, hiess wie sie: Betty. Sie war die Tochter von ­Salomon und wurde mit ihrem Onkel James verheiratet. Salomon war der zweitälteste und 18  Jahre älter als sein jüngster Bruder James. Die ‹fünf Frankfurter› führten ab 1812 je ihre Bankfilialen in Frankfurt am Main, London, Paris und bald sogar in Wien und in Neapel. James hatte die französische Linie begründet, Salomon die österreichische Linie.

Wenn Betty in Paris weilte und ihren Grossvater sah, erzählte er ihr ab und zu von ihrer Urgrossmutter. «Sie war die Freundin von Frankreichs Kaiserin Marie-Amélie. Deine Urgrossmutter war eine wunderschöne Frau», erwähnte er meistens gleich zu Beginn. «Der Maler Jean-Auguste-Dominique Ingres verewigte sie 1848 sogar in einem Porträt in Öl, und Heinrich Heine widmete ihr sein Gedicht ‹Der Engel›.»

Von ihrem Grossvater Gustave wusste Betty, dass er einst das Collège Royal de Bourbon – die königliche Schule der Bourbonen – auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean besucht hatte. In das Bankgeschäft hatten ihn sein Vater James in Paris und sein Onkel Amschel Mayer, der älteste Sohn des Dynastiebegründers, in Frankfurt eingeführt. Gustave übernahm mit seinem Bruder Alphonse von James die Rothschild-Bank in Paris. Dort arbeitete er, der mittlerweile das Consistoire israélite in Paris präsidierte, eng mit Bettys Vater Léon zusammen, der als Rothschild-Agent tätig war und sich deshalb oft in Paris aufhielt.

In Brüssel fühlte sich Betty 1911 mit ihren bald siebzehn Jahren mehr als unterfordert. Sie war eingesperrt und malte sich ihre eigene abenteuerliche Zukunft als Erwachsene aus. Henri studierte an der École de Commerce Solvay, und sie schrieben sich oft.

Um womöglich doch noch zu ihrem Ziel zur Berufung zu kommen, trieb Betty sich mit jedem weiteren Jahr zu Bestleistungen. Sie wollte ihrem Vater beweisen, dass in ihr das Blut einer ambitionierten Rothschild-Banquière floss und ihr Herz für die ­Finanzgeschäfte schlug – jedoch vergeblich. Ihr blieb das Arbeiten verboten; wie die anderen Frauen in ihrer Zeit hatte sie keine Wahl. Jeder Effort blieb ungesehen. Enttäuscht gab sie sich mit jedem Tag launischer.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich damit zu trösten, dass sich ihr mittlerweile 24-jähriger Bruder, die musische Künstlerseele, ebenfalls seinem Schicksal beugen musste und gegen seinen Willen dereinst Banquier zu sein hatte. Vater führte weiterhin einzig ihn in die Bankenwelt ein und ignorierte, dass ­dieser wie sie unter den starren Traditionen litt.

Ihrem Vater missfiel mehr und mehr, dass sie in Mathematik und Sprachen begabter war als ihr Bruder. Einmal hörte sie ihn sogar über Henri lästern, er tauge zu nichts. Manchmal, wenn sie wach im Bett lag, hatte sie das Gefühl, dass er sich vielleicht so abweisend ihr gegenüber verhielt, weil er befürchtete, sie wolle ihm oder seinem Sohn den Platz streitig machen.

Betty deponierte ihre Ängste und Wünsche hinter ihrem Panzer. Je länger sie sich isoliert, unverstanden und einsam fühlte, desto mehr tröstete sie sich im Schreiben von Gedichten und ­Tagebüchern. Sie liebte die Poesie, das Reimen und die leisen Worte. Sie suchte die sprachliche Perfektion. In verzweifelten Stunden verwandelte sie das Papier in ihre Klagemauer. Ihre Zeilen warf sie jedoch stets in den Kamin, zurück blieben einzig ihre Gedanken, wie in einem Tresor gefangen. Ein Tresor, der einem Block gleich, zwei Welten voneinander trennte: eine Innenwelt, deren Zugang der Aussenwelt verwehrt blieb – und umgekehrt.

Ihr fiel auf, dass ihr Vater belasteter und absorbierter als üblich wirkte. Eines Tages hörte sie Mutter einer Freundin klagen: «Als höchster Jude warten stets wichtige Aufgaben im Lande auf ihn. Léon ist die jüdische Autorität bei königlichen Empfängen, ist besorgt um die Zukunft der Juden in Belgien – und die Leute suchen bei ihm als Repräsentanten der jüdischen Gemeinde Rat. Aber: Vor allem die Aktivitäten der Rothschilds wie auch des belgischen Königs fordern Léon zu viel ab. Der Freistaat Kongo ist siebzig bis achtzig Mal grösser als unser junger Staat, und Leopold II. ist masslos ungeduldig und fordernd.» Von den dortigen Ressourcen wolle Leopold II. alles finanzieren, um sein Land zu entwickeln und zu vergrössern.

Immer mehr fragte sich Betty, was ihr die Zukunft bringen und wohin sie sie führen würde. Sie sehnte sich danach, nach Paris zu ziehen. «Ich bin fast erwachsen! Lass mich bei Claude leben», flehte sie ihre Mutter an. Doch je aufmüpfiger sie wurde, desto enger schnürte ihr die Mutter das Korsett.

Betty sitzt im Fumoir an ihrem Sekretär, einem schwarzen Napoleon III., mit filigranen In­tarsien und Messing verziert, und sortiert Unterlagen. Sie legt jene beiseite, die sie nicht nach Genthod nehmen, sondern verbrennen will. Hinter ihr knistert das Kaminfeuer. Sie versucht sich zu erinnern, wo sie das silberne Amulett mit dem Herzanhänger versteckt haben könnte. Hubert hatte ihr das Erbstück seiner Grossmutter vor Bettys Abreise nach Frankfurt geschenkt.

Mit Wehmut schwelgt sie in alten Gefühlen zu dem Sohn eines der Chauffeure ihrer Mutter. «Ihm konnte ich alles anvertrauen. Er verstand mich und hörte mir zu. Mit ihm konnte ich lachen. Zum Glück hat Mutter unser Geheimnis nie entdeckt», denkt sie. Ob ihre Eltern sie mit 17 deswegen in ein anderes Land verheiratet haben? Sie schüttelt den Kopf. Absurd! Wollten doch, wie Mutter stets betonte, Vater und Grossvater Gustave durch ihre Heirat mit Rudolf, einem Cousin dritten Grades, die ­Wurzeln zum Herkunftsort der Dynastie stärken.

Bettys Zukunft entwickelte sich in eine andere, sozusagen entgegengesetzte Richtung, als sie gewollt hätte. Statt zu reisen wie Henri oder unbefangen wie Nesthäkchen Renée zu sein, vergrub Betty ihre Lebensfreude und Neugierde folgsam im Palais. Die Zofen bürsteten ihr die Haare, liessen das Bad für sie ein, bekleideten sie. Die Bediensteten kochten für sie, wuschen alles und erledigten auch ungebeten jeden Handgriff.

«Freiheit ist nichts für Sie, Baronesse», erstickte ihre Zofe mit stets hocherhobenem Zeigefinger im Keim ihren jugendlichen Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben. «Auch Sie sind der Dynastie, den Männern, den Umgangsformen, den Traditionen und der Gesellschaft verpflichtet und müssen sich Ihrem Stand würdig erweisen», bläuten die Gouvernante und die Lehrer ihr sogar in dunkelsten Stunden der Verzweiflung ein. «Ihre Aufgabe wird es sein, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern und dabei allen religiösen und philosophischen Traditionen gegenüber offenzubleiben.»

Was Betty für sich als das Beste erachtete, interessierte niemanden. Am wenigsten ihre Mutter. «Die jüdische Tradition und unser Reichtum diktieren unsere Pflichten. Du hast wie wir alle deine Verantwortung zu tragen.»

Mit der Zeit fügte Betty sich in ihr Schicksal, kontrollierte jede ihrer Bewegungen und jedes ihrer Worte. Schier unmerklich, aber je länger, desto stärker unterdrückte sie ihre Gefühle.

Zu ihrem geheimen Verbündeten wurde Hubert, der selbst kaum zwanzig war und sie mit seinem Humor, seiner Ausstrahlung und dem flämisch-französischen Akzent beeindruckte und für sich gewann.

Er war Betty vom ersten Augenblick an aufgefallen, als er von seinem Vater erst hin und wieder mit zur Arbeit genommen und dann von den Bediensteten als Butler angelernt wurde. Er war zwei, drei Jahre älter als sie, sie schätzte ihn auf siebzehn, wirkte präsent, sportlich und vergnüglich. Stets umspielte ein schelmisches Lächeln seinen Mund, wenn er am Tisch bediente oder Gästen in den Mantel half. Immer, wenn er ihr Essen hinstellte und seine weissen Handschuhe aufblitzten, strömte eine nervöse Freude durch ihren Körper. Sie liebte es, ihn zu beobachten, wie er elegant und stilsicher jede Bewegung beherrschte.

Magisch zogen sich ihre Augen gegenseitig an. Manchmal lauerte sie ihm im langen Gang auf, um ihn beim Vorbeigehen zu erschrecken. Vor allem waren ihre Gedanken bei ihm, wenn sie allein im Bett lag oder ihren Körper vor dem Spiegel drehte und feststellte, dass er sich veränderte. «Mädchenträume», zog ihre Gouvernante sie manchmal auf, wenn sie sie dabei ertappte.

«Sind Sie etwa verliebt? Sie wissen, Baronesse, Ihre Zukunft liegt in den Händen Ihres Vaters und Ihrer Mutter. Sie werden die Wahl treffen.» Einmal war Hubert ihr in den gegenüber liegenden Park des Königs gefolgt, als sie mit Renée spazieren ging. Es war das erste Mal, dass sie miteinander ein paar Worte wechselten. Betty hatte sich umgesehen und gehofft, dass weder ihre kleine Schwester noch die Gouvernante sie verraten würden. Von diesem Moment an fand Betty nach dem Wegzug von Claude erstmals wieder einen Menschen, von dem sie sich verstanden fühlte und dem sie ihre Gedanken anvertrauen konnte. Selten gelang es ihr danach, die Gouvernante oder ihre Kammerzofe erneut als Verbündete zu gewinnen, damit sie sich davonschleichen und sich mit Hubert im Park treffen konnte.

An einem anderen Tag wartete Hubert hinter der ersten Weggabelung mit zwei Fahrrädern auf sie. Er strahlte, schalkhaft und verlegen zugleich. Die blonden Locken fielen ihm knapp auf die Schultern und umrandeten sein Gesicht wie ein Strahlenkranz. «Lass uns weit weg radeln», begrüsste er sie und zog sie auf: «Heute hauen wir ab!»

Sie liess sich von ihm aufs Rad helfen und kicherte. Sie musste den Rock hochheben. Wenn ihre Mutter wüsste, dass ihr der Butler das Radfahren beigebracht hatte und sie mit ihm über die verschlungenen Wege pedalte. Am liebsten hätte Betty vor Übermut laut schreien mögen, dachte aber gleichzeitig: «Hoffentlich sieht uns niemand.»

Nebeneinander fuhren sie ein Stück. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie ihn. Er faszinierte sie mit seiner poetischen und einfühlsamen Art, mit der er ihr Vertrauen gewann. Am liebsten wollte sie ihm gestehen, dass ihr gefiel, wie dynamisch, optimistisch und bodenständig er war. «Lass uns weit weg fahren», flüsterte sie zu ihm hinüber, musste aber plötzlich bremsen und vom Fahrrad steigen, da sich ihr Rock im Rad zu verheddern begann.

Hubert hielt an und wandte sich ihr zu. «Lass uns wieder zurückkehren», bat sie ihn, obwohl sie sich am liebsten an seinen Hals geworfen hätte.

Nebeneinander spazierten sie in Richtung Stadtpalais zurück. Er schob zu seiner Linken und Rechten die beiden Räder, sie ging neben ihm, erzählte ihm von ihrem neusten Studium der französischen Geschichte und brachte ihm englische Wörter bei. Dann rannte sie über die Strasse in den Stadtpalais zurück, wo die Gouvernante ihr die Türe öffnete.

Rahel hatte auf sie gewartet. «Endlich, Baronesse, sind Sie zurück! Ich erleide während Ihrer Abwesenheit Todesängste. Wenn die Baronin von Ihren Ausflügen etwas mitbekommt, stellt sie mich auf die Strasse. Das hätte schreckliche Folgen für mich.»

Niemals hätte sich Betty mit Angestellten und Menschen anderen Standes abgeben dürfen. Doch nach jedem Treffen mit Hubert steigerten sich ihre Sehnsüchte, Fantasien und Hoffnungen. Der scheue Mann weckte die ersten zarten Frauengefühle in ihr. Ihm fühlte sie sich nahe; ihn liess sie in ihre Seele blicken.

Besonders schätzte sie die wenigen Abende, an denen sie sich mit Renée zu Mutter in der Bibliothek setzen durfte. Inbrünstig las diese den beiden Schwestern Henris Postkarten und aus seinen Briefen vor, in denen er den Daheimgebliebenen seine Erlebnisse schilderte. Betty malte sich anhand seiner Worte die Länder und die Menschen aus, manchmal schweiften ihre Gedanken dabei auch zurück, als Henri mit ihr Karten gespielt oder ihr im Park des Königs das Fotografieren und das Autofahren beigebracht hatte. In einer Mischung aus Freude und Neid lauschte sie Henris Beschreibungen aus Mutters Mund.

In den letzten Reisen schwärmte Henri oft vom königlichen Freistaat Kongo. Dass er wie Vater und andere Männer den König bei dessen Privatbesitz im fernen Afrika unterstütze, dass der König den ‹Wilden›, wie er sie bezeichnete, Kultur und Wissen ermögliche und dass Vater ihn, Henri, mit der Kontrolle beim Elfenbein- und Diamantentransport beauftragt habe. Wir sollten die Kritik am König ignorieren. Betty schwieg beeindruckt.

Von Henris Reisen zu hören, war für Betty im Brüsseler Stadtpalais stets ein emotionales Auf und Ab. Immer wieder. Ein kühner Gruss aus den Vereinigten Staaten, ein inniger aus dem Fernen Osten, ein eiliger aus Japan und aus China… und ein charmanter Gruss aus Indien, wo Henri sich 1910 sieben Monate lang als Forscher für unentdeckte Gebiete aufhielt und bis zum Stamm der Sakais vorstiess.

Die Sonne steht an diesem Montag hoch am stahlblauen Himmel. Auf der Brücke beim Bootshaus, wo sich Betty bei einem erneuten kurzen Spaziergang mit Scrumpi einfindet, saugt sie den feuchten Duft des Sees in sich auf. Sie schlendert auf dem Weg weiter, am Tennisplatz vorbei, der sich dem Ufer entlang erstreckt. Nach wenigen Minuten biegt sie rechts in den Schorenkopf ein. Diese Halbinsel ist ihr Lieblingsort im Park.

Mitte der 1930er-Jahre hatte sie sowohl den Tennisplatz samt zwei Kinderschaukeln an hohen Stangen erstellen als auch etwas später auf der Halbinsel ihre eigene ‹Côte d’Azur› mit Föhren aus Südfrankreich pflanzen lassen. Vom Schorenkopf aus lassen sich Fischotter, Fische und Vögel beobachten und durch die Föhren hindurch Rehe auf dem weiten Wiesengrün im Park.

Vor den drei Hundegrabsteinen am Ende des Schorenkopfes bleibt sie stehen und liest die Gravuren. Auf dem neusten Stein ist eingraviert: ‹Corgi my friend for 12 years – 1958›.

Joseph hat Stadtpräsident Emil Baumgartner und Regierungsratspräsident Fritz Moser zur Loggia geführt. Nun stehen die Politiker, beides Juristen, wie Betty weiss, drei Stufen tiefer vor ihr auf dem Kies vor der Loggia. Baumgartner reicht ihr die Hand.

«Bonjour, Madame la Baronne, besten Dank für Ihre Einladung.» Der Stadtpräsident lächelt. «Darf ich Ihnen, Madame la Baronne, Fritz Moser vorstellen, Regierungsratspräsident des Kantons Bern.» Baumgartner, dunkelhaarig, schlank, gross und staatsmännisch, berührt dabei kurz Mosers Schulter, der kleiner und korpulenter ist als er.

«Bonjour.» Betty nickt und richtet ihre Schultern auf.

«Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Madame la Baronne», begrüsst Moser sie.

Baumgartner nickt. «Ich freue mich, Sie heute persönlich kennenzulernen.»

«Ganz meinerseits», ergänzt Moser.

Sie zieht die Mundwinkel höflich hoch. Sie ist sich sicher, dass die beiden Amtsvertreter wissen, dass sie die vermutlich reichste Thunerin ist, und sich entsprechend für die Verhandlungen vorbereitet haben. Sie zeigt mit dem Arm auf den gedeckten Tisch in der Loggia. «Monsieur le Stadtpräsident, Monsieur le Regierungsratspräsident, Sie dürfen Platz nehmen.»

Aus den Augenwinkeln taxiert sie die beiden. Von Baumgartner weiss sie, dass er für die Freisinnigen im Nationalrat sitzt und alles daran setzt, ihre Campagne zu kaufen. Von Moser, dass er Präsident der Berner Kantonalbank ist und für die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei im Grossen Rat des Kantons politisiert. Moser kommt gleich zur Sache. «Der Kanton Bern kauft Ihr Gut gemeinsam mit der Stadt Thun.»

Sie sieht Baumgartner erröten. Sofort fügt der Stadtpräsident an: «Wir finden, dass Ihr Anwesen weder verzettelt noch an auswärtige kapitalkräftige Kreise der Spekulation ausgeliefert werden darf.» Baumgartner, der zugleich Thuns Finanzvorsteher ist, hat ihr bereits vor drei Jahren Interesse an ihrem Grundbesitz signalisiert.

«Falls überhaupt», schickt der Regierungsratspräsident nach, «würde die öffentliche Hand einzig den landeinwärts liegenden Teil mit industriellen und gewerblichen Anlagen und Wohnhäusern überbauen.»

«Wir müssen natürlich noch das Volk an der Urne und die Grossräte fragen», sagt Moser. «Reine Formsache.»

Sie richtet sich im Stuhl auf. «Wir sprechen über dreizehn Gebäude und ein Grundstück von insgesamt 277’000 Quadratmetern Land samt Naturschutzwald und Seegrund sowie eine eigene Quellwasserversorgung. Ich bin Ihnen von 8 auf 7,5 Millionen Franken entgegengekommen – mit der Auflage, dass die Ufer­zone immer erhalten bleibt. Der Kauf muss aber vor Jahresfrist vollzogen sein.» Sie weiss, dass der Preis zu tief ist. Doch damit erreicht sie, was sie will: Das Geld ist ihr auf sicher; ein rascher ­Abschluss ohne Wenn und Aber. «Ansonsten verkaufe ich an andere Interessenten, die übrigens mehr bieten als Sie, Messieurs Stadtpräsident und Regierungsratspräsident.»

«Nicht nötig», beschwichtigt Baumgartner.

«Wir können und wollen den Vertrag noch in diesem Jahr unterzeichnen», beeilt sich Moser anzufügen. «Beim Grundstück handelt es sich um hochwertiges Bauland. Wir sind uns der Grosszügigkeit bewusst. Wie Sie wissen, liegt sein Wert bestimmt bereits ohne Gebäude bei weit über acht Millionen Franken.»

Ihr Entscheid steht fest: «Ihr Notar darf sich bei mir melden.» Ihre Bedingung sei, dass das Areal als Einheit erhalten bleibe, weder überbaut noch Teile davon bebaut würden.

«Zudem», betont sie, «wünsche ich, dass der Park öffentlich genutzt wird und Hunde darin immer willkommen sind.»

Moser verzieht den Mund und führt schnell die weisse Tasse mit den blauen Rosen an die schmalen Lippen.

Betty ignoriert ihr eigenartiges Gefühl im Bauch. «Auf dem Schorenkopf müssen die Hundegrabsteine und im Park die exotischen Bäume belassen werden.» Baumgartner und Moser nicken wie Zwillinge.

«Sie sind übrigens nicht die ersten Beamten, die hier im Haus bewirtet werden», wechselt Betty das Thema, um die Haltung der beiden Politiker zu prüfen. «Vor und während des Zweiten Weltkrieges etwa waren die Chefs der Fremdenpolizei bei mir: Paul Baechtold und Heinrich Rothmund. Stichwort ‹Judenstempel›.»

Als Betty vergeblich auf eine Reaktion wartet und in zwei irritierte Gesichter schaut, fügt sie mit herausforderndem Unterton an: «Meine Herren, Sie wissen es bestimmt: während des Krieges... der Buchstabe J, mit dem die Behörden Pässe und Reisedokumente von Juden kennzeichneten. Abgestempelt.» Dass etwa Diplomaten aus Spanien und Frankreich bei ihr waren, die Tausende von Juden vor der Deportation retteten, lässt Betty unerwähnt. «Kennen Sie den Schwager von Bundesrat Max Petitpierre, Denis de Rougemont? Er sass auch mit mir und Gästen an diesem Tisch.» Sie wartet einen Augenblick, dann ergänzt sie: «Der Universitätsprofessor war Mitbegründer des Gotthardbundes und hatte dazu aufgerufen, sich gegen die Bedrohung durch Nazi-Deutschland aufzulehnen.»

«Rothmund und Baechtold? Wer kennt die beiden Herren nicht?», sagt Moser zögerlich. «Rothmund ist bis vor fünf Jahren Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei gewesen und hat dieses Amt nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaut.»

Sie nickt. Ihr ist bekannt, dass dieses vor allem auf eine antijüdische Abschirmung zielte. Die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa sollte minimiert werden. Daher weiss Betty, dass die Abwehrhaltung der Schweizer Politiker ihr gegenüber bereits vor dem Druck aus Nazi-Deutschland bestanden hat.

Für einen Moment schweigen alle am Tisch.

«Sie liessen mich überwachen», nimmt Betty den Faden zu Rothmund und Baechtold wieder auf. Sie beobachtet, wie sich die Augenbrauen der beiden Politiker schier unmerklich anheben, und denkt, dass sie ihr nicht glauben – und das ist gut so, findet sie in ihrem inneren Dialog. Schliesslich setzt sie noch hinzu: «Selbst der Nazi-Freund und Frontisten-Mentor James Schwarzenbach sah sich bei mir um.» Niemals hätte sie den beiden jedoch erzählt, dass sie ­jüdische Schriftsteller, Schauspielerinnen und Musiker insbesondere im Krieg unterstützte, Kontakte zum Nachrichtendienst des Kriegsministeriums der Vereinigten Staaten in Bern pflegte, jüdischen Bekannten zur Flucht verhalf. Dass ihr ‹Gwatt› als kleine internationale Drehscheibe für Informationen und Kontakte diente und sie geheime Aktivitäten unterstützte.

«Thun war für die Schweiz und die Armee in beiden Weltkriegen von grösster Wichtigkeit», erzählt Moser und spitzt dazu die Lippen. «Ihnen ist bestimmt bekannt, dass es in und um Thun regelmässig Aktivitäten, Vorträge und Wahlerfolge der Frontisten gab.»

Betty würde Moser gerne provozieren, lässt sich jedoch nichts anmerken.

«Politiker, Geschäftsleute, Mit­glieder der Stadtmusik Thun», zählt er auf, «viele sympathisierten mit den nationalsozialistisch-faschistisch regierten Ländern und pflegten Kontakte zur deutschen Kolonie in Bern.»

Sie lässt sich nichts anmerken, doch sie hätte den Regierungsratspräsidenten am liebsten auf der Stelle durch den Butler zum Tor führen lassen. Stattdessen sagt sie: «Unter dem Tanzsaal des Gasthofs ‹Lamm› hatte die Armee einen Verschlag eingerichtet, in welchem Internierte vorübergehend untergebracht wurden, darunter auch Juden, die an der Grenze angehalten worden waren.» Sie erinnert sich an ausgemergelte Gestalten mit hohlen Wangen – und an ihre eigene Angst, unter der sie als Jüdin trotz Schweizer Pass litt. «Andere Verfolgte», ergänzt sie, «schlurften – phasenweise rund um die Uhr – verlumpt und schmutzig durch die Strasse vor der Villa. Einige wagten sich hie und da in den Ehrenhof. Sie klopften an die Tür und baten den Koch oder andere Bedienstete um Essen und um Kleider.»

Moser holt Luft, doch Betty gibt ihm keine Zeit, um seine Gedanken zu formulieren. Sie sieht den Moment gekommen, um das Gespräch zu beenden. «Ich denke, wir haben alles besprochen, was für unseren Handel nötig ist. Joseph führt sie hinaus.» Sie streckt Baumgartner die Hand hin, danach Moser, dreht sich abrupt um und verschwindet durch die Tür im Fumoir.

Der Butler führt den Stadtpräsidenten und den Regierungsratspräsidenten zum Gästebuch im Vestibül. Einer nach dem anderen nimmt den goldenen Füllfederhalter in die Hand.

Fritz Moser, Rg.Präs., Bern, 17.10.1960 Emil Baumgartner, Stadtpräsident

Im Kleinen Salon lässt sich Betty in den Sessel fallen. Geschafft. Das Verhalten von Beamten und Politikern wirkt nach, solches Getue widert sie an. Sie sinniert über die Macht, die Männer ausüben – wie in ihrer Dynastie, ihr Vater und auch König Leopold II.

Vater Léon, König Leopold II. und die Kongo-Gräuel

1904 waren erste Zeitungsberichte mit Vorwürfen gegen Leopold II. wie auch gegen Bettys Vater und andere Involvierte erschienen. Der Vater war noch seltener daheim. Betty musste Mutter aushalten, die mit ihr schimpfte, während Renée, das behütete Nesthäkchen, bei den Gouvernanten blieb.

Mutter verteidigte den König und alles, was der Vater für ihn tat: «Politik ist nichts für die Ohren von Mädchen, und schliesslich wächst Belgien und seine Infrastruktur und Macht dank dem Kongo-Freistaat.»

«Ich habe gehört, wie Vater im Salon mit Männern sprach. Er ­ärgerte sich wegen hitziger Journalisten, die über Gräueltaten im königlichen Freistaat Kongo schreiben würden.» Betty konnte sich kaum mehr zurückhalten. «Von gigantischem Abbau von Rohstoffen war die Rede. Von Kautschuk, Diamanten und Eisen, ebenso von Palmöl und Elfenbein.» Mutter liess Betty stehen. «Jetzt ist genug», sagte sie nur, bevor sie sich von ihrer Tochter wegdrehte und sie alleine zurückliess.

Betty hatte mitbekommen, dass der König im Kongo das Land geplündert habe. Dabei seien die Menschen versklavt und die Eingeborenenstämme entwurzelt worden. Von Ausbeutung des Kongos war die Rede, ebenso von brutalen Exzessen. Betty bedauerte, dass ihr der Mut fehlte, weder Mutter noch Vater oder Henri zu fragen, was dies alles zu bedeuten habe. Sie beobachtete still weiter, dass Vater immer bedrückter wirkte, auffällig angespannt und verkrampft.

Sie wartete ab und entlockte schliesslich Henri doch noch ein paar Antworten.

«Stimmt», erklärte er ihr auf ihre Fragen, «unter internationalem Druck, wie in den Zeitungen korrekt stand, wurde Leopold II. dessen Privatbesitz entzogen. Seit dem 15. November 1908 ist das Land in Afrika mit dem neuen Namen Belgisch-Kongo eine Kolonie des Staates Belgien.» Schätzungen zufolge, las Betty kurz darauf in der Zeitung, habe die königliche Herrschaft zwischen zehn und zwanzig Millionen Opfer gefordert.

Was mit den Gräueltaten im privaten Kongo-Freistaat von König Leopold II. damals gemeint war und inwiefern ihr Vater damit zu tun gehabt hatte, erfuhr Betty trotz allem nur am Rande. Sie wusste nicht mehr, wem sie glauben konnte. Sie haderte mit sich. Sollte sie an ihrem Vater zweifeln? Ihn weiterhin bewundern? In der Hoffnung, dass sie ihn eines Tages doch noch für sich gewinnen könne, beschloss sie, dass er für sie ein vorbildlicher Geschäftsmann, ein engagierter Banquier bleiben würde. Vater, verteidigte sie ihn, trieb Brüssel voran und brachte in Afrika den Menschen Entwicklung – für Ruhm und Ehre seines Landes und im Namen des Königs.

Ins Zweifeln kam sie jedoch immer wieder, wenn Vater bei Gästen von seinen Aktivitäten oder von den ‹Inlanders›, den Eingeborenen im Kongo, vom Abenteurer, Afrikaforscher und Journalisten Henry Morton Stanley oder von der ‹langen Hand von König Leopold› sprach. Sie hörte stets aufmerksam zu.

«Doch mehr gibt es dazu nicht zu sagen», pflegte er Fragen auszuweichen. Erst recht nicht mehr, seit König Leopold II. im Jahr 1909 verstorben war.

Erst allmählich verstand sie, was sich in diesem unrühmlichen Kapitel der belgischen Kolonialgeschichte ereignet hatte. Praktisch alle Regierungen und vor allem Reiche erweiterten ihre Territorien und ihren Reichtum mit Kolonien. Es sei ihr Recht und sie täten etwas Gutes für die Zivilisation und die Bildung der ‹Wilden›, hiess es. Weder würden Länder ausgebeutet noch Menschen versklavt, zitierten Journalisten die Protagonisten der Kolonialherrschaften.

Als Tochter von Léon Lambert, dem höchsten Juden im Land und dem Herrn im Hause, wagte Betty kaum, sich zu fragen, ob ihr Vater den König und sein Tun angezweifelt hatte. Sie blieb hin und her gerissen.

Vor dem Zubettgehen schaut sich Betty in der Bibliothek das Album der Reisen ihres Bruders an: Kikuyu-Schönheiten, Flussfahrten auf dem Kongo, Arbeiter auf den Diamantenfeldern, in der Kohlemine, Afrikaner beim Bau der Eisenbahn. Henri neben dem erlegten Löwen und wie er mit dem Auto durch die Flüsse fährt.

Betty sitzt im Bett und tippt mit ihren Zeigefingern abwechselnd die Tasten der ‹Hermes›. Neben ihr auf der Decke liegt das Silbertablett mit dem Frühstück. Die Buchstaben schlagen dumpf auf die Walze. Tock, tock-tock. «Omami und ihr Adlersystem», hört sie in Gedanken ihre Enkelinnen und schmunzelt.

Oft tätigt Betty Anrufe bereits vor dem Aufstehen und jeden Tag schreibt sie Briefe, mit der Maschine oder von Hand, im Bett oder am Sekretär im Fumoir; jedes Jahr über dreihundert Weihnachtskarten. Betty formuliert gerne in Reimen, bisweilen kreiert sie noch immer Gedichte.

Die Flammen im Kamin züngeln in die Höhe. Die Typenhebel hämmern rhythmisch, sie schiebt den Wagen am Zeilenende wieder nach links. Zwischendurch hört sie ihre Zofe nebenan, wie sie vom Ankleidezimmer ins Bad und wieder zurück geht.

Im Peristyl wartet Betty auf Max, ihren Chauffeur und Gutsverwalter. Sie hört ihn den Topolino aus der Garage und durch den separaten Zugang auf die Strasse fahren. Gleich darauf beobachtet sie, wie er den Wagen in den Ehrenhof einlenkt und vor ihr parkt. Mit gewohnt süffisantem Grinsen, das in seinen Augen zum Gruss aufblitzt, steigt er aus und hält ihr die Tür auf.

«Scrumpi, viens», ruft Betty und setzt sich auf den Fahrerplatz. «Merci.»

Als Max den Wagenschlag zugestossen hat, steuert Betty das Auto auf die Strasse. Sie klopft mit den Fingerkuppen im Rhythmus der Hits aus dem Radiolautsprecher aufs Lenkrad. Connie Francis singt ‹My Happiness›, Brian Hyland trällert ‹Itsy Bitsy Teenie Weenie›, während sie dem See entlangfährt.

Vergnügt summt sie ihrem Treffen entgegen. Seit den Vorkriegsjahren teilt sie dann und wann Stunden mit Kostia. Der Grieche, der wie andere Freundinnen und Freunde in der Diaspora in Paris lebt, heisst mit vollem Namen Constantine George Anthony Dimitros Vlastos. Sein Vater präsidierte einst die Bank von Konstantinopel. Zügig kurvt sie durchs Kandertal. Die Bäume im bunten Herbstkleid ziehen an ihr vorbei, auf den Bergspitzen liegt bereits der erste Schnee. Auf der Höhe des Blausees biegt sie rechts in den Parkplatz des Ausflugsortes ein.

Über knorrige Wurzeln hinweg schreitet sie neben Scrumpi durch den Wald bis zum Bergsee. Als sie zwischen den Bäumen auf die Lichtung tritt, sieht sie Kostia auf der Terrasse des Restaurants stehen. Sofort winkt er ihr zu. Sie spürt seinen Blick auf sich, steigt die Treppe nach oben und bleibt vor ihm stehen. Für eine magische

Sekunde treffen sich ihre Augen. Doch seine vertraute Nähe lässt sie heute erstarren.

«Bonjour, quelle beauté!», raunt er ihr entgegen.

Ein voller Schnurrbart, weiss und grau, Schalk in den Augen, genau so, wie damals, als er sie vor 22 Jahren zum ersten Mal in der Campagne aufsuchte. Da war er 55 und hatte acht Jahre zuvor in Lausanne Ludmilla, eine baltische Russin, geheiratet. Die beiden reisten regelmässig, und er brauchte in Nazizeiten Beratung. Kostia wusste um ihr Netzwerk in diplomatischen Kreisen. Er traf sich bei ihr im ‹Gwatt› mit Paul Baechtold, damals Leiter der Eidgenössischen Fremdenpolizei, dessen Frau Colette und anderen Gästen, die ebenfalls nützliche Kontakte benötigten.

Kostia zupft sie am Arm. «Schön hier! Und wir sind ungestört.» Er zwinkert ihr zu, als würde er kein Alter kennen.

Sie ignoriert seine Anspielung. «Wie geht es dir?»

«Ich bin ein Greis und träume jede Nacht von dir und meinen starken Zeiten.»

Sie quittiert die Annäherung mit einem Schritt zurück.

«Erinnerst du dich an Jacquette Hamilton, die sich gleichzeitig mit dir damals bei mir aufhielt? Die Schwedin, Quettan war ihr Übername. Ihr Mann ist der italienische Diplomat Bartolomeo Migone.»

Er nickt, hält ihr den Stuhl hin und setzt sich auch an den Tisch.

Schweigend studieren sie die Speisekarten.

Als der Kellner herantritt, bestellt Betty ein Glas Champagner und eine kleine Forelle aus dem Blausee mit Toastbrot.

Still lässt sie ihren Blick über den See wandern, bis sie Kostia antwortet. «Wie könnte ich den gemeinsamen Besuch des Concours hippique im heissen Sommer vor dem Krieg vergessen.»

Er nickt. «Du hattest viele Leute, oft US-Offiziere und Di­plomaten, eingeladen.»

Sie überlegt lange. Dann sagt sie: «Quettan besucht mich fast jeden Sommer und schwärmt noch heute von dir.» Sie kräuselt die Lippen, als sie ihm über die neusten Erkenntnisse informiert: «Sie hat übrigens dabei geholfen, dass es nach einem Zusammenstoss 1956 vor New York zwischen einem italienischen und einem schwedischen Passagierschiff – der ‹Andrea Doria› und der ‹Stockholm› – zur aussergerichtlichen Einigung kam.»

«Oui, ich habe davon gelesen. Frauen ziehen immer mehr die Fäden.» Wie zwei alte Freunde, die sich alles und doch nichts gesagt haben oder einander nichts mehr sagen wollen, essen sie. Betty nippt am Glas und schaut zwei jungen Verliebten zu, die händehaltend dem See entlang schlendern.

Nach einer Weile schiebt sie den Teller von sich weg. «Es wird langsam Zeit.» Als Kostia gedanklich abwesend bleibt, fordert sie seine Aufmerksamkeit. «Du weisst, jetzt ersetzen auf dieser Distanz Flugzeuge die Schiffe.» Er verzieht den Mund. «Oh, die alten Zeiten. Weisst du noch, wie ich, der im Ersten Weltkrieg ein griechischer Pilot und Korrespondent von ‹Le Temps› war, mit dem französischen Pass Heissluftballon flog? Tja, auch ich werde alt, chère Betty.»

«So ist das Leben, cher ­Kostia.» Sie schaut ein letztes Mal über den Blausee und steht auf.

«Folgst du meiner Einladung zum griechischen Abend heute?»

«Du wirst dich heimisch fühlen – mit Ouzo und gefüllten Weinblättern, jedoch ohne Knoblauch.»

Kostia grinst Betty zu, nimmt einen Schluck und packt sein ­Zigarettenpäckchen. «Wie immer: Es wird perfekt sein bei dir. Kenne ich die anderen Gäste?»

«Sie teilen sich eine Verbindung zu deinem Ursprungsland. Daniel Gagnebin, bis eben noch Gesandtschaftssekretär in der Schweizer Botschaft in Athen, und der Kunstsammler Jürg ­Stuker.»

«Monsieur Stuker ist der ­Stiefsohn von Baron Robert de Stuker, der einst Prinzenerzieher am griechischen Hof war. Er ­verkauft Kunstwerke.»

Er schüttelt den Kopf.

«Jürg Stuker hat mit seinem Erbe 1938 in Thun ein Antiquariat eröffnet und ist mit diesem später nach Bern gezogen. Das Stuker-Auktionshaus kennst du doch!»

Auf dem unebenen Weg zurück zum Parkplatz grübelt Betty über Kostias Furchengesicht nach. Hinter seinem spitzbübischen Lächeln sah sie einen müden Mann. Wie bei Rudolf, wie früher bei Vater. Die Erinnerung an ihn weckt in ihr eine unerwartete Sehnsucht nach ihm und seinen jüdischen Bräuchen und Freunden in der Synagoge in Brüssel.

Eine Kindheit mit jüdischen Wurzeln

Bettys Vater stand zwar als ­Präsident dem repräsentativen Organ der Juden, dem Israeli­tischen Zentralkonsistorium von Belgien als jüdischer Dachorganisation des Landes, und der ­jüdischen Gemeinde in Brüssel vor, trug einen Bart und legte Wert auf jüdische Traditionen. Doch nie hätte Léon Lambert ausschliesslich koscher essen wollen, sich gar ultraorthodoxe Schläfenlocken wachsen lassen oder stets die Kippa getragen.

Die belgischen Juden, insbesondere in Brüssel, wie die Rothschild-Familie ihrer Mutter Lucie in Paris, galten als tolerant und offen, auch gegenüber Nicht-Juden.

Das Judentum war seit der Gründung des Königreichs Belgien 1830 eine anerkannte Religionsgemeinschaft. In Brüssel hatten sich sechs jüdische Gemeinden gebildet, und diejenige in Antwerpen entwickelte sich gar zu einer der grössten jüdischen Gemeinden Europas. Die Grande Synagogue an der Rue de la Régence in Brüssel war ein wichtiges Zentrum der reformierten ­liberalen Gemeinde. Das prunkvolle Gebäude inmitten der Stadt war 1878 erbaut und von Bettys Eltern mitfinanziert worden.

Trotz allem hatte sich Betty der gebieterischen Erziehung hochadliger Kreise unterzuordnen genauso wie jener der Rothschild’schen und jüdischen. Die Familie fastete an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, ass an Feiern koscher und zelebrierte weitere hohe Feiertage. Dazu gehörte Rosch Haschana, das jüdische Neujahr, oder das Fest Pessach, welches an den Auszug aus Ägypten und die ­Befreiung aus der Sklaverei ­erinnern sollte.

Ihre jüdische Identität erfüllte Betty mit Stolz, doch sie legte nie Wert auf religiöse Bräuche. Zudem war sie Gruppierungen und Glaubensgemeinschaften abgeneigt. Zu sehr erlebte sie innerhalb ihrer Familie diese Traditionen als einengend. In die Synagoge durfte sie als Mädchen nur an Feiertagen. Das war ihr recht. Der Singsang der Männer und der autoritäre Blick des Rabbiners wirkten auf sie sowieso zu bedrohlich.

Am 22. März 1908 feierte die Familie Bettys 14. Geburtstag in Mutters Pariser Zuhause im ­Hotel Parisien an der Avenue ­Hoche 43. Ihr Vater Gustave hatte die Immobilie einst für sie ­gekauft. In der Tischrunde betonte Mutter die liberale Haltung der Belgier. «In Deutschland, aber genauso in Frankreich gibt es weitaus mehr judenfeindliche Gruppierungen», erklärte sie, was Betty erstaunte.

Grossvater ergänzte sogleich, dass einer der antreibenden ­Hetzer der katholische Journalist Édouard Drumont gewesen sei.

«Gerade in der Dreyfus-Af­färe hat er vehement gegen Juden gehetzt und überhaupt gegen uns Rothschilds in Paris. Zusammen mit Grossrabbiner Zadoc Kahn habe ich mich zugunsten des 1895 zu Unrecht verurteilten Offiziers engagiert – leider vergeblich.»

Betty fand Grossvaters Informationen spannend, derweil Mutter versuchte, ihren Vater zu bremsen, was ihr jedoch misslang. «Dieser Drumont hat 1889 sogar eine französische Antisemitenliga gegründet», echauffierte sich Gustave trotz seiner 79 Jahre mit vibrierender Stimme. «Drumonts Lieblingsmotiv war die antijudaistische Gottesmord-These. Mit ihr versuchte der Journalist zu erreichen, dass Frankreich judenfrei wird.»

Betty tritt die Rückfahrt ins ‹Gwatt› an. Mittlerweile dürfte Rudi, wie sie Rudolf Maximilian von Goldschmidt-Rothschild, ihren ersten Ehemann, nennt, eingetroffen sein. Er lebt hauptsächlich bei seiner Schwester Lucy auf deren Gut im waadt­ländischen Blonay in der Nähe von Vevey und des Israelitischen Friedhofs in Prilly. In dieser Stätte ruhen der gemeinsame Bruder Albert, der nach seinem Suizid 1941 dort beerdigt wurde, und andere Familienmitglieder. Seit Rudolfs Flucht aus Frankfurt ­finanziert Betty massgeblich sein Leben. Diese war ihm wenige Wochen vor der ‹Reichskristallnacht› 1938 gelungen. Wie seine gesamte Familie hatte Rudolf im Naziregime praktisch alles verloren.

Während sie heimwärts steuert und über Rudi nachdenkt, ruft sie sich ihre erste Begegnung mit ihm wach. 1911. Er war 30, ein Grandseigneur, der mitten im ­Leben stand, sie knapp 17, eine unerfahrene Frau voller Träume.

Als Frau kein Recht auf Selbstbestimmung

Regelmässig besuchte Betty mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester Renée in Paris auch die grosse Schwester Claude – und mit ihr die Hunde- und Pferde­rennen, die ihr und ihrem Mann Jean wichtig waren. 1908 waren sie gar gemeinsam alle nach London gereist, um ihn an den Olympischen Spielen beim Fechten zu erleben.

Während Henri weiterhin den Moment hinauszögerte, in Vaters Bank eintreten zu müssen, und stattdessen lieber als Entdecker und Fotograf unterwegs war, zwang sich Betty im Brüsseler Stadtpalais dazu, sich in ihr Schicksal zu fügen. Die wohlerzogene Prinzessin in ihr harrte der Dinge, die eingeschlossene Rebellin wäre am liebsten mit Hubert durchgebrannt.

«In einer Viertelstunde bei unseren beiden Bäumen», lockte Betty Hubert eines Tages in den Park. Als er rennend bei ihr eintraf, flehte sie ihn an. «Pssssst. Wir müssen auf der Hut sein.» Aufgeregt sprach sie auf ihn ein. «Ich glaube, dass meine Eltern etwas mit mir vorhaben. Lass uns ausreissen. Ich weise meine ­Gouvernante an, meine Koffer zu packen, damit wir nach Ostende oder sogar nach Paris fahren und unser eigenes Leben beginnen können.»

«Das klingt wunderbar, liebe Betty, aber beruhige dich!» ­Hubert streichelte ihr über die langen Haare, die sie in ungewohnter Weise offen trug. «Wie schön du bist und wie fein du riechst! Aber ich muss zur Arbeit zurück, deine Mutter erwartet jeden ­Augenblick Gäste.»

Sie begann zu weinen. «Ich bin in diesem goldenen Käfig ­gefangen, dabei möchte ich fliegen lernen!» Nervös zupfte sie am hellblauen Rock, den sie anhob, damit er trotz Gras fleckenlos blieb.

Er nahm ihre Hände in die ­seinen und legte sie an sein Herz. «Lass uns das später durch­denken.»

Sie nickte und senkte den Kopf. «Geh nur, ich hecke mir ­einen neuen Plan aus.»

Hubert liess ihre Hände los und eilte davon.

Sie strich sich mit den Handrücken über die feuchten Wangen. Am liebsten wäre sie mit ihm gerannt, weit weg. Stattdessen schlich sie sich in das Palais zurück, legte sich aufs Bett und kraulte ihren Fluffy, den sie im Zimmer gelassen hatte. Sie nahm ihr Notizbuch aus der Kommode und schrieb ein Gedicht.

Am 22. März 1911 feierte Betty im grossen Salon im Stadtpalais in Brüssel ihren 17. Geburtstag. ­Renée war mittlerweile zwölf. Claude blieb in Paris, Henri war gerade aus Afrika zurückgekehrt. Mutter hatte jedes noch so kleinste Detail perfekt durchorganisiert.

Betty war jedoch nicht zum Feiern zumute. Am Vorabend hatte Mutter ihr eröffnet, dass eine Heirat zweier Rothschilds – zwischen der deutschen und der französischen Linie – arrangiert werde. Diese stärke die Verbindung zwischen den Lamberts und den Rothschilds zwischen Brüssel, Paris und Frankfurt am Main. Die künftigen Eheleute würden beide die fünfte Generation nach dem Dynastiebegründer Mayer Amschel aus dem Frankfurter Ghetto vertreten und seien Cousins dritten Grades.

Die Rothschilds, erwähnte die Mutter, gehörten in Frankfurt zu den wichtigsten jüdischen ­Familien.

Sofort ahnte Betty, wovon Mutter sprach. Die Vorstellung, in das konservative, militärische Königreich Preussen verheiratet zu werden, hielt sie bis in die frühen Morgenstunden wach. Die Gouvernante half ihr den ganzen Nachmittag über, sich einzukleiden, den passenden Schmuck auszuwählen und sich die Haare mit Blumen zu schmücken und hochzustecken. «Wie schön Sie sind!», sagte Rahel, während Betty sich im Spiegel anschaute und ihre kleine Schwester Renée aus dem Zimmer scheuchte. In ihrem Innern stellte sie sich vor, wie sie sich mit Hubert treffen, mit ihm in den Zug steigen und weit weg fahren würde.

«Es ist so weit», holte sie die Gouvernante aus ihren Gedanken und öffnete die Tür.

Unter den Gästen am üppig dekorierten Geburtstagstisch voller Kerzen und Blumensträusse befanden sich tatsächlich ­Verwandte aus Frankfurt am Main. Mutter gesellte sich zu ­ihnen und platzierte Betty direkt neben sich. Neben Vater, also schräg gegenüber, sass Max, der 68-jährige Witwer Maximilian Benedikt Baron von Goldschmidt-Rothschild.

Sie sah sich umgeben von ­seinen Söhnen und Töchtern: ­Albert, 32, Rudolf, 30, Lili, 28, Lucy, 20, und Erich, 17 Jahre alt. Betty sass Rudolf gegenüber, die anderen ihren Ehemännern und Ehefrauen.

Suchend schielte sie immer wieder zur Tür, ob sie vielleicht Hubert unter den Butlern ent­decken würde. Vor allem aber ­beobachtete sie die Gesichter um sich herum und wehrte sich gegen die Vorstellung, dereinst möglicherweise unter ihnen in Frankfurt leben zu müssen. Manchmal schaute sie aus den Augenwinkeln verstohlen zu ­Rudolf hinüber. Mutter hatte ihm bestimmt aus einem gewissen Grund genau den Platz ihr gegenüber zugewiesen.

Während sie den Blick langsam über den Tisch von Person zu Person schweifen liess, rief sie sich in Erinnerung, was sie von dieser Ursprungsstadt der Dynastie und den Verwandten wissen sollte.

Die Schwester von Max’ verstorbener Frau Minka lebte in Paris, Adelheid. Sie war mit Grossvaters Bruder Edmond verheiratet. Ihre Mutter war die bekannte Hannah Mathilde, eine Coucousine von Bettys Mutter. Mathilde war mit ihren 79 Jahren in Frankfurt am Main die letzte noch lebende Vertreterin ihrer Generation. Sie war eine Rothschild-Tochter aus der österreichischen Linie und mit ­Willi aus der italienischen Linie – dem Cousin ihres Vaters – verheiratet gewesen, dem 1901 verstorbenen letzten männlichen Rothschild in Frankfurt. Ursprünglich hätte Grossvater ­Gustave sie zur Frau nehmen sollen, doch er hatte sich für Cécile ­Anspach entschieden.

Betty sinnierte über Mutters Herkunftsfamilie. Sie erinnerte sich, dass Dynastiebegründer Mayer Amschel in seinem Tes­tament einzig den Rothschild-Söhnen erlaubt hatte, in den ­eigenen Unternehmen tätig zu sein. Deshalb mussten die Rothschilds nach Willis Tod das Bankhaus ‹M. A. von Rothschild und Söhne› in Frankfurt liquidieren. Dies, obwohl Max, Mathildes Schwiegersohn, es als Banquier hätte führen können. Doch er durfte nicht – da er ein Tochtermann war, wie Mayer Amschel die Männer von Rothschild-Töchtern bezeichnete.

Wie in adligen Kreisen üblich, das war Betty längst klargeworden, endete für die Rothschild-Töchter die Existenz im Stammbaum mit ihrer Heirat – was die Zeitungen verdeutlichten: Nach Willis Tod schrieben die Journalisten, dass Baron ­Willi kinderlos gestorben und der Name Rothschild damit aus Frankfurt verschwunden sei. ­Dabei war Willis Witwe Mathilde eine geborene Rothschild, und ihre beiden Töchter lebten 1901 ebenfalls noch: die damals 48-jährige Adelheid, kurz Ada gerufen, in Paris und die 44-jährige Minka in Frankfurt.

Betty beobachtete an ihrem Geburtstagstisch Max, der es sichtlich genoss, von sich zu erzählen. Sie wusste über ihn, dass das eigentliche Vermögen seiner Familie massgeblich durch die Heirat mit Minka zu ihm gekommen war und dass er, wie die meisten in der Dynastie, ein grosszügiger Mäzen und Kunstsammler war. Er war zudem der einzige Jude, der in der Zeit von Kaiser Wilhelm II. in den preussischen Adelsstand erhoben worden war. Max erzählte Vater und Mutter, wie er zu seinem Namenszusatz gekommen war: «Kurz nach Willis Tod starb 1903 meine Frau Minka.» Gemeinsam mit den Rothschilds sei beschlossen worden, seinen Namen mit den zehn magischen Buchstaben zu ergänzen. Daher hiessen er und seine Kinder von Goldschmidt-Rothschild. «So», schloss Max, «blieb wenigstens der Name Rothschild in der ­Ursprungsstadt Frankfurt erhalten.» Sie fühlte sich steif und ­erdrückt inmitten der klirrenden Gläser und des Stimmendurcheinanders. Die Vorstellung einer arrangierten Ehe, die ihr nach Mutters Worten vom Vorabend ständig im Kopf herumschwirrte, verunsicherte sie.

Wie die Pariser, Wiener und Londoner zählten die Frankfurter Rothschilds zu den mit Abstand reichsten jüdischen Familien in ihrem Land. Möglicherweise, überlegte Betty, waren sie die überhaupt reichste Familie im gesamten deutschen Kaiserreich. Sie wusste, dass gerade Frankfurt den Rothschilds und ihren Stiftungen die Existenz zahlreicher Institutionen verdankte: Museen, Universitäten, Institute, Kranken-, Kur- und Waisenhäuser, Altersheime, Schwimmbäder, Bibliotheken, Forschungsprojekte, wissenschaftlicher Unterricht, ein Siechenhaus sowie die Mütter- und die Kriegsfürsorge. Da bei den Rothschilds jedoch so etwas wie das heilige Gebot der Diskretion galt, erwähnten sie ihr Mäzenatentum kaum je in der Öffentlichkeit. Langsam wurde sie am Tisch ungeduldig. Wie früher fand sie die über mehrere Länder verteilte weitverzweigte Verwandtschaft recht unüberschaubar. «Wussten Sie», wollte Mutter von Max wissen, «dass die Schweiz stets zu den gerne frequentierten Destinationen der Rothschilds gehörte?» Betty hörte aufmerksam zu, denn die Schweiz gefiel ihr sehr.

Sie kannte Genf, St. Moritz und Gstaad.

«Mein Grossvater James hatte in der Schweiz Geld in den ­Eisenbahnbau investiert – und es wegen des Bankgründers Escher verloren», nannte Mutter ein Beispiel. Und Max’ Schwiegermutter Mathilde weilte bis ins hohe Alter gerne in St. Moritz.

«In Pregny am Genfersee», ergänzte Mutter, «hatte Adolph Carl, Willis Vater, einen Park mit einer griechischen Villa gekauft und an deren Stelle ein Schloss erbauen lassen.»

Max nickte. «Stimmt. Adolfs Frau Julie, Mathildes Schwester, war mit Sissi befreundet – und sah sie bei sich in Pregny als eine der letzten Personen lebend, ­bevor der Attentäter die Kaiserin tötete.»

Betty entging nicht, dass ­Rudolf wiederholt ihren Blick suchte und sie anlächelte. Ihr war unwohl. Manchmal nickte sie höflich, quittierte eine Aussage oder Frage mit «Oui». Eine nie enden wollende Reihe an Butlern in weissen Handschuhen brachte gefüllte Teller an die reich geschmückte Tafel. Mutter war zur Hochform aufgelaufen, Vater mit Max in politische Debatten vertieft, ebenso ihre Cousins und Coucousins. Mit jeder Stunde verstärkte sich ihr unbehagliches Gefühl. Beim Gedanken an Frankfurt empfand sie eine tiefe Abneigung.

Auf einmal erhob sich ihre Mutter, stellte sich in den Türrahmen und winkte Betty und Rudolf zu sich. Sie beendete die Tischrunde und gab das Fumoir und den Salon für den Tee frei. Zu dritt stiegen sie nun in den Lift, weil Mutter ihm mit Betty zusammen die Galerie zeigen wollte.

Verkrampft betrachtete sie von der Seite diesen Mann, der nur knapp grösser als sie war. Ein Schnurrbart zierte sein quadratisches Gesicht, die Ohrläppchen waren angewachsen und seine Finger kurz. Er trug einen Seitenscheitel, die Haare waren mit Gel nach hinten gekämmt. Mutter befragte ihn über seine Malkünste.

Rudolf stand im Lift gezwungenermassen nahe neben ihr, so dass sie sein herbes Parfüm riechen konnte. Es mischte sich mit dem rauchigen Zigarettengeschmack, der von seiner Haut und seinem Anzug ausging.

Während der Fahrt hörte Mutter auf, mit Rudolf zu sprechen, drehte sich unvermittelt zu ihr hin und sagte emotionslos, als ob sie die Unveränderlichkeit der bevorstehenden Geschehnisse in diesem begrenzten Raum verdeutlichen wollte: «Jetzt können Sie sich umarmen.» Bevor Betty reagieren konnte, kam Rudolf der Aufforderung nach und drückte Betty an sich, bis sich ihre Wangen berührten. Es ging blitzschnell. Sie war blockiert, diesem Überfall ausgeliefert und wusste augenblicklich: Mit ihm wurde sie verheiratet.

Dabei hatte sie bis zur letzten Minute doch noch gehofft, dass Mutter wenigstens sie als ihre zweite Tochter von dieser Tradition ausnehmen würde. In diesem Moment, der sich wie eine erstarrte Ewigkeit anfühlte, hätte sie ihre Mutter für ihre Gemeinheit, sie an diesem unausweichlichen Ort zu überrumpeln, erwürgen können.

Dass sie Belgien für Rudolf verlassen und in Frankfurt eine Familie gründen würde, war für Betty undenkbar. Als Teil einer fremden Familie, in der Deutsch gesprochen würde und sie alleine und fern von ihren Nächsten leben müsste. In dieser Sekunde brach für sie eine Welt zusammen. Während Rudolf sie wieder von sich schob, verabschiedete sich Betty in einem Sog voller Traurigkeit endgültig von ihrem Hubert und ihren Träumen auf ein Leben als selbstbestimmte Frau nach eigenen Vorstellungen.

Betty umklammert mit ihren Lederhandschuhen das Lenkrad und steuert den Topolino heimwärts. Aus dem Radio rockt Elvis ‹I gotta know›, doch sie hört nicht hin.

Die Landschaft zieht an ihr vorbei. Auf den Bergen liegt bereits Schnee und das Weiss zeichnet sich gegen den blauen Himmel ab. Die Bauern schlagen längs den Wiesen Pfähle ein, damit im Winter der Strassenverlauf erkennbar bleibt.

Einige Fahrzeuge kreuzen sie, am Bahnhof in Frutigen warten Leute mit ihren Koffern auf den Zug. Kinder rennen über den Schulplatz.

Als sie auf der Strasse in Richtung See fährt und über diesen hinaus auf die gegenüberliegende Seeseite schaut, ist ihr für einen Moment, als ob sie der Vergangenheit davonfahren würde.

Die Erinnerung an die Szene im Fahrstuhl, an das prüde Frankfurt von damals, ihr Heimweh nach Brüssel und Paris lässt sie jedoch nicht los.

Sie drückt aufs Gaspedal und schaltet hoch. Die letzten Kurven, dann sieht sie zu ihrer Linken den Gasthof ‹Lamm› und gleich darauf den Bauernhof neben der Villa, dann die Einfahrt in den Ehrenhof. Scrumpi bellt und ­wedelt freudig, als sie einbiegt und durch das weit geöffnete ­Eisentor fährt. Joseph steht im Peristyl, um ihr die Tür zu öffnen. Als ob er ihre Ankunft geahnt hätte.

Der Kies knirscht unter den Rädern. «Ist Baron Rudolf schon da?», fragt sie ihren Butler, der ihr zunickt, und steigt aus.

Dasselbe Schicksal wie ihre Mutter

Überrumpelt und dem Protokoll gehorchend verliess Betty nach ihrer Mutter und hinter Rudolf den Fahrstuhl. Mit zugekniffenem Mund trat sie hinter ihnen in die Galerie.

Das hellblaue Seidenkleid mit den Puffärmeln klebte an ihr. Ihr war unglaublich heiss. In diesem Moment hasste Betty ihre Mutter und deren eiskalte Mimik, ihren Vater, ihre Familie, alle. Abgrundtief.

Am liebsten hätte sie nie mehr etwas mit Mutter zu tun haben wollen. Nur ihre Erziehung liess sie einer Marionette gleich funktionieren. Ihre Maske lächelte. Innerlich schnaubte sie. Wie Hammerschläge dröhnte ihr Mutters Stimme aus all den ­Jahren im Kopf: «Disziplin und Haltung. In jeder Situation! Das unterscheidet uns von allen ­anderen.»

Während Betty, zu einer Reaktion unfähig, den Blick zu ­Boden sinken liess, brandeten Wut und Verzweiflung in ihr auf.

«Wie können Vater und Mutter mir nur so etwas antun!… Nach Frankfurt! In ein fremdes Land! Und erst noch einen Verwandten! Nie werde ich einwilligen. Ich bin und bleibe halb ­Belgierin und halb Französin.» Ihre Gedanken irrten wild im Kopf herum. «Ich... ich ziehe zu Claude nach Paris... ich reisse aus und reise mit Hubert um die Welt.» Rudolfs und Mutters Stimmen klangen derweil, als ob sie weit entfernt auf einem anderen Planeten reden würden. Ihr war, als ob sie in Stücke gerissen würde. «Wieso werde ich so weit weg verheiratet und schon jetzt!... mein Bruder dagegen darf studieren und reisen und… muss nicht heiraten, obwohl er sieben Jahre älter ist als ich!»

Während Mutter vor ihr mit Rudolf von Gemälde zu Gemälde schritt und sie sich über ihrer beider Malkünste austauschten, war Betty, als ob ihr Hirn brennen und bald explodieren ­würde. «Henri... er darf ein Abenteurer und in geschäftlichen Angelegenheiten unterwegs sein, obwohl er gar kein Unternehmer sein will – und ist bei den Empfängen mit dem König dabei.»

Erschrocken schaute sie zu ihrer Mutter, doch da sie sich von dieser unbeobachtet fühlte, nahmen die rasenden Sätze in ihrem Kopf gleich wieder überhand. «Sogar jetzt, in diesem für mich einschneidenden Moment, geniesst Henri seine Freiheit in Südafrika und besucht Gold- und Diamantenminen und riesige Zuchtanlagen. Und ich?!»

Dann und wann blickte Rudolf zu ihr herüber. Doch sie ­realisierte, dass er ignorierte oder übersah, wie durcheinander sie war. Manchmal lächelte er ihr zu. Ihr war, als ob er ihr ­zuversichtlich vermitteln wollte, welch gute Partie er für sie sei. In seinen Augen blitzte eine Neugierde auf, die sie sich nackt fühlen liess.

Sie zitterte. Und spürte, dass es durchaus möglich wäre, dass sie, trotz aller Disziplin, die Beherrschung verlieren könnte. Sie stand kurz davor, davonzurennen und ihren Panzer zu sprengen. Während Mutter ohne auf sie zu achten mit Rudolf durch die Galerie schlenderte, bei jedem Werk eine Geschichte zu ­erzählen wusste, verlor Betty gänzlich die Kontrolle über ihr Denken: «Alles ist ungerecht!... die Männer bestimmen alles, wir Töchter haben keine Rechte!»

Grenzenlos wütend hätte die Rebellin in ihr schreien wollen. Steif und unfähig, etwas zu tun, stand sie stattdessen neben den beiden. Knapp siebzehn und heiraten. Doch sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie traf dasselbe Schicksal, wie es viele Frauen erdulden mussten. Eine Wiederholung ohne Anfang und Ende über Generationen. Vater und Grossvater verfügten über sie, missbrauchten sie für eigene Zwecke im Namen des Geldes, des Einflusses und der Dynastie.

Langsam fing sie sich wieder und erwiderte nun Rudolfs Lächeln. Ihr Trotz wich der Wut: «Ich… dann sollen sie mich mit Geschenken aus aller Welt überhäufen – so kann ich später wieder verkaufen, was ich will, und mit dem Geld tun, was ich will… und…»

Während sie ihre Mutter beobachtete, die Rudolf umgarnte, blitzte in Betty ein neuer Gedanke auf: Bestimmt hatte auch sie eigene Träume. Doch niemals würde Mutter je die für ihre Kreise vorgesehene Rolle der Frau verlassen.

Auf diese Weise mit ihrer ausweglosen Zukunft konfrontiert, spürte Betty, wie etwas in ihr zu brechen begann. Diese patriarchale Gesellschaft widerte sie an. Sie beschloss, dass sie, sollte sie einmal Töchter haben, diese nie verheiraten würde.

Zurück von ihrem Ausflug, legt sich Betty in der herbstlichen Nachmittagssonne mit einer Decke in die Chaiselongue vor der Loggia. Edvige hat ihr den Korb mit den drei Büchern hingestellt, in denen sie momentan immer wieder liest. Eines nach dem anderen nimmt sie diese in die Hand und studiert die Titel, alle von Autoren, die bei ihr in ihrer Oase am See gewesen sind.

‹Les racines du ciel›, Erzählungen des grossen französischen Romanciers Romain Gary – mit jüdischen Wurzeln in Vilnius. Sie legt sein Buch zurück, das er ihr bei seinem Besuch signiert hat, und nimmt Georg ­Lukács’ ‹Gottfried Keller›, eine Biografie über den Schweizer Schriftsteller, in die Hand. Sie kennt den jüdisch-ungarischen Philosophen Lukács, da er im umstrittenen philosophischen und reformerischen Kreis des um 1933 verstorbenen Dichters Stefan George verkehrt hat.

Nach Lukács’ Besuch bei ihr, Anfang der 1940er-Jahre, als er auf der Flucht war, hat sie den Kontakt zu ihm verloren. Eine Bekannte schrieb ihr letzthin, dass sich der Kulturprofessor mit der marxistischen Theorie beschäftigt habe und in den Ungarnaufständen 1956 inhaftiert worden sei. Das dritte Buch, das Betty derzeit liest, ist jenes von Teresa María de Escoriaza y Zabalza. Vor zwei Jahren besuchte die spanische, in den USA lebende Journalistin und Schriftstellerin sie und schenkte ihr ‹La corte de las ­damas›, eine Sammlung von ­Gedichten für Frauen in deren Kollektion ‹Los poetas›, die sie 1929 unter ihrem männlichen Pseudo­nym ‹Félix de Haro› publiziert hatte.

Sich in ihrer Chaiselongue für ein Buch zu entscheiden, fällt Betty schwer; und noch mehr das Lesen selbst. Sie wird abgelenkt, als sich um die Ecke ein Fenster öffnet. Rudolfs Summen dringt vom ‹Rudi-Zimmer› nach draussen. Soeben ist Joseph zu ihm in sein Reich aus Schlaf-, Ankleide- und Badezimmer im oberen Stock gestossen. Betty hört sie miteinander sprechen. Der Butler hilft ihm bestimmt beim ­Anziehen.

Sie atmet tief durch und findet, dass sich Rudolf in ihrem ‹Gwatt› genauso heimisch fühlt wie bei seiner Schwester Lucy in Blonay oder in irgendeinem der Hotels, in denen er sich hie und da einquartiert. Er, den die Enkelkinder wegen seines Schnurrbarts ‹Grandpapa Moustache› nennen, hat sich in seinem Exil in der Schweiz längst eingelebt. Sie fragt sich, was ihm von ihrer Heirat in Brüssel und den gemeinsamen Jahren in Frankfurt noch in Erinnerung geblieben ist.

Grossvaters Tod in Paris überschattete die Heirat

Nach diesem ‹Überfall im Fahrstuhl›, wie sie diesen Moment mit ihrer Mutter und Rudolf bezeichnete, kostete Betty die ihr noch verbleibenden Monate in Brüssel auf ihre Weise aus. Sie ignorierte ihre Mutter, stiess ­Renée von sich. Sie stürzte sich in ihr Studium, welches daheim mit ihren Hauslehrern weiterhin ihre tägliche Aufgabe blieb. Heimlich traf sie sich mit Hubert. Er litt mit ihr und vermittelte ihr das Gefühl, sie noch mehr auf Händen zu tragen und die Welt mit ihr entdecken zu wollen.

Bis zur Heirat, die auf den 9.  Januar 1912 angesetzt war, ­arrangierte Mutter in Brüssel Treffen zwischen ihr und dem dreizehn Jahre älteren Rudolf aus Frankfurt. Ein erzwungenes Kennenlernen, ein fremdes Gefühl für eine gemeinsame Zukunft. Betty erfuhr, dass er an der Akademie der Bildenden Künste in München Malerei studiert hatte, wie fast alle Männer Wild und Grosswild jagte, gerne Polospielen und Pferderennen beiwohnte und zudem Tontauben schoss.

Aber keine der Begegnungen mit ihm vermochte bei ihr einen Anflug von Verliebtheit aufkommen zu lassen. Kein Kribbeln, keine Schmetterlinge. Ihr war, als ob es ihm ähnlich ginge, doch er schien sich leichter mit dem ­Arrangement zurechtzufinden. Die Ehe entsprach der Tradition, erhöhte das Ansehen und stärkte die Bindung. Die Güter blieben jedoch getrennt, was Grossvater Gustave und Vater Léon vertraglich geregelt hatten.

Sie war traurig. Vater, inzwischen 60, gab sich zufrieden, seine aufmüpfige heiratsfähige Tochter bald weit weg zu wissen. Niemand stellte mehr seinen Einfluss infrage oder wollte gar seinem Sohn den Rang streitig machen. Stets liess Léon Betty stehen oder wies sie vom Tisch, wenn sie wieder einmal protestierte oder erwähnte, dass in ihr im Gegensatz zu Henri das Blut einer Banquière fliesse.

Und Mutter, 48 Jahre alt, unterstützte Vaters Haltung Betty gegenüber und sonnte sich gleichzeitig im Lob ihrer Eltern Gustave und Cécile in Paris.

Folgsam erfüllte Bettys Mutter die Erwartungen aller, lud ­alles, was Rang und Namen hatte, zu Treffen in ihren Salon und zog leise die Fäden im Hintergrund für Bettys Hochzeit in Brüssel. Die Mutter vollzog die Tradition – und war ihre pubertierende Rebellin los. Übrig blieb bald nur noch Nesthäkchen ­Renée. Der mittlerweile 24-jährige Henri dagegen durfte Frau und Zeitpunkt der Heirat selbst wählen und sich in seinen Männerkreisen amüsieren.

Die umfassenden Vorbereitungen auf den grossen Tag nahmen ihren Lauf. Einkäufe, Kleider, Einladungskarten, Verträge, Geschenke, eine quirlige Renée in Bettys Bett am Morgen, aufgeregte Gouvernanten und Zofen. Betty liess unbeteiligt alles mit sich geschehen, als ob eine Fremde heiraten würde.

Ihr widerstrebten die starren Vorschriften für die Hochzeitszeremonie. Meistens, wenn sie Regeln folgen musste, verhielt sie sich ungeschickt. Sie stand ungerne im Mittelpunkt. Ein Missgeschick oder ein unangemessenes Verhalten in aller Öffentlichkeit waren ihr Albtraum. Vater und Mutter duldeten keine Fehler. Renée dagegen war ausser sich vor Freude über Bettys Brautkleid, das mit glänzenden Diamanten, goldenen Bordüren edelstem Stoff und einem fürstlichen Schleier jenem einer ­Königin gerecht geworden wäre. Jeden Morgen bettelte und bat Renée darum, ebenfalls heiraten zu dürfen. Ihr sagte Betty nur: «Freu dich nicht zu früh!»

Am 28. November 1911 starb in Paris Bettys Grossvater im Alter von 82 Jahren. Gustaves Tod überschattete die Vorbereitungen kurz vor der Hochzeit. Ihr kam es vor, als ob es ein böses Omen für die Zeit sei, die ihr in Frankfurt bevorstehen würde. Immerhin hatte sich Gustave in alter Tradition auf diesen Moment vorbereitet und seine Nachfolge geregelt. Bereits 1907 hatte er erste Wünsche notiert und in den Folgejahren sein Vermögen, seine Möbel und Besitztümer an Immobilien wie auch seine Kunstsammlung verteilt. Gar die Verantwortlichkeiten hat er den Nachkommen im Detail mit Namen zugeteilt und schliesslich Bettys Vater zum Testamentsvollstrecker bestimmt. In den Zeitungen wurde die Vermählung von Betty und Rudolf verkündet, verbunden mit der Bemerkung, dass die Feierlichkeiten wegen des Todes des «ehrenwerten und allseits geschätzten Barons Gustave lediglich im intimen Rahmen» stattfinden und keine Hochzeitsankündigungen verschickt würden. Mit der Familie reiste Betty nach Paris an die Beerdigung ihres Grossvaters. An der Trauerfeier verinnerlichte sie sich seine ­Zeilen, die er ihr 1895 damals als Einjährige auf die Rückseite einer Porträtfoto von ihm geschrieben hatte: «À ma bien chérie petite fille Betty, son affectueux grand-père Gustave de Rothschild.»

Die einflussreichsten Männer erwiesen ‹ihrem› Baron, Mäzen, Berater, Freund und Vorbild die letzte Ehre. Betty war eigenartig zumute. Ihr Grossvater war gestorben, während sie bald in die Geburtsstadt ihres Urgrossvaters James ziehen würde.

Im Fumoir setzt sich Betty an ihren Sekretär. Es ist einer ihrer Lieblingsplätze. Vor sich ihre ‹Hermes›, links ein Telefon, rechts ein Blumenstrauss in einer bauchigen Vase aus Meissener Porzellan mit goldverzierten Rändern. Jeden Moment erwartet sie Rudi. Sie öffnet die Schublade und nimmt das Geschenkbuch von ihrer Hochzeit hervor.

Sie betrachtet den Deckel: ­‹Cadeaux à Mlle Lambert›. Vier Seiten mit gedruckter Kleinschrift und eine von Hand nachgeführte fünfte Seite. Ihr Blick schweift auf der ersten Seite über die Namen, deren Reihenfolge streng dem Protokoll entsprechen. Unter den Hochzeitsgästen entdeckt sie solche, die sie später sogar im ‹Gwatt› besuchten. Etwa zwei der drei Coucoucousins aus Wien, die Brüder Louis und Alphonse von Rothschild, oder auch Marie-Anne Fried­laender-Fuld, Rudolfs zweite Frau. Den Namen zugefügt sind ihre Brautgeschenke: Schmuck, Edelsteine, Möbel, Kleider, Bettwäsche, Stoffe, Tapeten, Antiquitäten, Geschirr, Gobelins, Teppiche. Viele der Geschenke haben Betty nach ihrer Zeit in Frankfurt immer wieder dazu gedient, sich Bargeld zu beschaffen.

Rudolf führt die Liste an: ein Smaragdring, Perlenketten, ein Diadem aus Smaragdsteinen und Diamanten, eine Garnitur Mieder mit Smaragdsteinen und ­Diamanten, ein Armband aus Smaragdsteinen und Diamanten, eine Armbanduhr mit Diamanten, eine Bayadère, die damals modisch langen Ketten aus Perlen, Haarnadeln mit Schildpattplättchen und Diamanten, ein Pelzmantel mit Muffen aus Zobel, antike Fächer…

Sie hört, dass Rudolf die ­Treppe heruntersteigt.

Unglücklich im schweren Brautkleid

Am 9. Januar 1912, als sich die Reichsten und Einflussreichsten aus dem In- und Ausland in der Synagoge in Brüssel zur Hochzeit von Baron Rudolf von Goldschmidt-Rothschild und Baronesse Betty Esther Charlotte Laure Lambert einfanden, war es bitterkalt. Der Schnee hüllte Strassen und Bäume in ein weisses Kleid. Der Wind blies auf dem Weg zur Synagoge durch alle Ritzen. Die fensterlose Trambahn, die geschlossenen und auch die offenen Pferdekutschen kamen im Schneetreiben kaum vorwärts. Betty stand neben dem goldverzierten Fünfspänner mit den glänzenden Rappen und wartete, bis sie zum Vater an der Tür geführt würde. Ein hauchdünner Seidentüll verhüllte ihr Gesicht. Die Lippen verharrten in einem schmalen Lächeln. Die Vermählung mochte ein gran­dios leuchtender Tag für die ­Eltern und ihre Familie sein, nicht aber für sie. Sie bewegte sich wie eine verkrampfte Ma­rionette und wusste, dass es allen egal war, wie es in ihrem Inneren aussah.

Die Synagoge war geschmückt mit der Chuppah und wunderschönen Blumen und sie war zum Bersten voll. Die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite. Das Protokoll gab jeden Schritt und jedes Wort vor. Demütig und zugleich kerzengerade, wie sie gelehrt worden war, schritt Betty als Tochter des ranghöchsten Juden im Lande an Léon Lamberts Seite in der Mitte der Synagoge über den roten Teppich bis zum Baldachin, wo Rudolf auf sie wartete.

Das mit Diamanten und Rubinen verzierte Hochzeitkleid und der meterlange Schleier voller Spitzen wogen schwer und schnitten ihr die Luft ab. Der seidene Stoff glitt über den Boden, das Gewicht zerrte ihren Kopf nach hinten. Während Betty die Blicke auf sich spürte, weinte sie still um ihre geheime Liebe zu Hubert.

Trotz des Schattens, den Grossvaters Tod auf die Feierlichkeiten warf und bei ihrer Pariser Familie für eine bedrückte Stimmung sorgte, fehlte es bei der Zeremonie an nichts. Sie dauerte eine Ewigkeit. Mindestens zwei Stunden. Baldachin, goldener Ring, zerbrochenes Weinglas – und der gemeinsame laute Segenswunsch ‹Masel Tow!›.

Obwohl Rudolf ihr bei einem Tanz zugesichert hatte, alle nötigen Vorbereitungen in Frankfurt getroffen zu haben, damit sie sich daheim fühlen würde, und sie sich darauf freuen dürfe, fand sie an diesem Tag alles zum Heulen.

Betty tritt aus dem Fumoir in die Loggia und geht nach vorne an den Rand der Stufen, als gleich darauf Rudolf die Tür öffnet und sich neben sie stellt. «Sei gegrüsst, chère Betty.»

«Bonjour, Rudi, bienvenu!» Sie dreht sich kurz zu ihm hin und richtet ihren Blick gleich wieder in den Garten. Sie lässt sich nichts anmerken, doch erstmals ist ihr aufgefallen, dass er mit seinen 79 Jahren gebrechlich wirkt.

«Alles bestens! Lucy lässt dich grüssen», hört sie ihn sagen.

«Merci.» Betty weiss ihre Schwägerin, die vom Schiessen fast taub ist, auf ihrem Gut in Blonay. Obwohl sie erst 69 ist, bleibt Lucy am liebsten zurückgezogen bei ihren Kühen.

Sie war eine geschätzte Literatin, die bereits in Frankfurt Künstlerinnen und Künstler ­unterstützte und eng mit Else Lasker-Schüler, Rainer Maria ­Rilke, Hugo von Hofmannsthal und anderen befreundet gewesen war.

Sie spürt, dass Rudolf sie von der Seite beobachtet. «Was ist?»

Sie glaubt ihm nicht und will sich gerade abwenden, als sie seine Hand auf der Schulter spürt.

«Fällt es dir schwer, dein ‹Gwatt› zu verkaufen?»

«Stupide! Was soll diese dumme Frage!»

Rudolf hakt mit einem verschmitzten Gesicht nach. «Söhnst du dich vielleicht mit der Ver­gangenheit hier aus, bevor du umziehst?» Nach einer Weile murmelt sie: «Verabschiede besser du dich von diesem paradiesischen Ort, Rudi. Schliesslich hat er dich wie viele andere reich beschenkt.» Trotz ihres Hasses auf alles, was deutsch ist, trotz der Streitigkeiten anlässlich ihrer Trennung Ende 1918 und der Scheidung Mitte 1921 hat ihn letztlich Nazi-Deutschland wieder zu einem Verbündeten gemacht. Er nickt kaum merklich.

Sie drückt die Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch in der Loggia aus, und Rudolf entfernt sich in Richtung Tür. Dazu murmelt er nur :«Mich friert es.»

«Ist dir eigentlich je bewusst geworden», fragt sie, als sie ihm ins Fumoir und durch die Zimmerflucht bis zur Bibliothek folgt, «dass die Zeit in Frankfurt meine härtesten Jahre gewesen sind?» Er hebt die Augenbrauen, schüttelt den Kopf und sagt aber im Widerspruch zur Mimik: «Bien sûr, ma chère, ich kenne doch dein Leben.»

Beide lassen sie sich in einem Sessel nieder, während Joseph ihnen Tee auf dem Beistelltisch platziert.

«Erinnerst du dich noch an den engen Fahrstuhl in Brüssel», will sie wissen, «als meine Mutter mich mit der Hiobsbotschaft überfiel? ‹Maintenant vous pouvez vous embrasser›, sagte sie für mich aus heiterem Himmel. Ihre Worte hallen noch heute in meinem Ohr.» Sie sucht in Rudolfs Gesicht nach Regungen.

«Vage. In einem Fahrstuhl? War das nicht in einer Kutsche?» Rudi runzelt die Stirn. «Eine arrangierte simple Verwandtenehe. Wie Väter und Grossväter dies damals zugunsten von Vermögen, Einfluss und Erbe taten.»

«Ich hätte meine Mutter erwürgen können.» Sie spürt, wie es wieder in ihr zu brodeln beginnt. Sie fährt sich mit der Hand über das kurze, volle gewellte Haar, das nach hinten gekämmt und mit Spray fixiert ist. «Sie führte Vaters Befehle aus und zwang mich zu dir nach Frankfurt, während andere Frauen frei waren und den ersten Internationalen Frauentag feierten. Marie Curie etwa erhielt da als erste Frau einen zweiten Nobelpreis.»

«Betty, lass es doch ruhen.»

Sie entfernt sich aus der Bibliothek und geht hinüber ins ­Fumoir. Sie hört Rudolfs Schritte, die ihr folgen, und dreht sich um. «Gut für die Geschäfte – und meine Eltern waren mich los, wussten mich versorgt und erst noch in der Ursprungsstadt der Dynastie. Verbrüderte Urgrossväter und zelebrierte Traditionen. Perfekt für alle – nur nicht für mich.» Um sich wieder zu fangen, stellt sich Betty ans Fenster.

«Ich weiss. Du wärst die bessere Financière als dein Bruder gewesen. Aber du bist und bleibst nun einmal eine Frau.»

Weltoffenes Brüssel, ­antisemitisches Frankfurt

Betty war mit der Heirat nicht mehr die Baronesse Lambert, sondern wurde die Baronin Rudolf Maximilian von Goldschmidt-Rothschild und nach deutschem Gesetz eine Deutsche, eine Preussin – und verlor ihre Doppelbürgerschaft als Französin und Belgierin. Drei Tage nach der Heirat stand die Reichstagswahl bevor, weshalb Rudolf zurück nach Frankfurt reiste. Sie gab sich alle Mühe, um sich in ihre neue Aufgabe und Rolle einzufinden. Doch es fiel ihr schwer. Sie lag im Bett, und alleine die Vorstellung aufzustehen, liess sie bleiern fühlen.

«Baronne, es kommt alles gut», sagte ihre Gouvernante, als sie zu Betty ins Zimmer trat, die Vorhänge aufzog und das Sonnenlicht den Raum erhellte. «Ich habe ein gutes Gefühl, Baron Rudolf ist nett», sprach Rahel weiter und richtete ihr die Kleider.

Betty schaute dazu aus dem Fenster. Vielleicht hatte die Gouvernante recht und sie würde mit Rudolf glücklich werden.

«Es wird dir an nichts mangeln, und meine Familie freut sich auf dich», rief sie sich seine Worte in Erinnerung. Sie bedankte sich bei Rahel. «Ich werde versuchen, mein Bestes zu geben und mich auf Frankfurt, Rudolf und seine Familie – meine Verwandten – einzulassen.»

Die Bediensteten bereiteten Bettys Umzug vor: Kleider, Bücher, Möbel, Schmuck, Wertsachen, Brautgeschenke. Bis zu ihrer Abreise schulte Betty ihr Deutsch, liess sich vertiefter in deutscher Geschichte unterrichten und tröstete Renée, die bald als letzte Tochter zurückbleiben würde. Betty wollte ihren 18. Geburtstag am 22. März 1912 noch in Brüssel feiern, danach würde sie von einem Tag auf den anderen die Familie wechseln und ihren neuen Platz finden müssen.

Manchmal stellte sie sich abends in ihrem Zimmer ans Fenster und verabschiedete sich von den vertrauten Bildern, Geräuschen und Gerüchen. Bedrückt beobachtete sie die kichernden Frauen, die im Park des Königs mit langen Kleidern und modischen Hüten vorbeiflanierten. Oder die Fahrzeuge, die sich vermehrt zwischen die Kutschen zwängten und die Strassen vor dem Stadtpalais überfüllten.

Ihr Schicksal, fand sie, stand unter einem schlechten Stern. Obwohl Rudolf sie aufmunterte, ihr von seiner Stadt vorschwärmte und Betty hoffen liess, dass es perfekt würde, fühlte sie sich beim Gedanken an ihre Zukunft nervös. In seinen Briefen beruhigte er sie. Auch am ­Telefon. «Jüdinnen und Juden ­leben bereits seit dem 12. Jahrhundert in Frankfurt, gehören zu den ältesten Bewohnergruppen der Stadt und haben mehr Rechte als anderswo», sagte er beim letzten Gespräch.

Sie hatte jedoch gelesen, dass die Stimmung im Kaiserreich ­angeheizt sei, und sprach Rudolf darauf an: «Antisemitische Kreise schufen den politischen Kampfbegriff ‹Judenwahl›. Die Antisemitenpartei besetzte nach der Wahl neu zehn Sitze im Reichstag.» Doch Rudolf meinte, sie übertreibe. «Aber es heisst», verteidigte sich Betty, «die Reichstagsmehrheit sei vom ‹jüdischen Golde› beherrscht. Zudem war Frankfurt schon zu den Zeiten unserer Urgrosseltern mit dem Ghetto und den unwürdigen Gesetzen für Juden eine antisemitisch geprägte Stadt – und wer weiss, wie es ohne unseren Mayer Amschel gewesen wäre, wenn er sich weitaus weniger engagiert für das den Christen gleichberechtigte Bürgerrecht der Juden eingesetzt hätte.»

Rudolf spielte ihre Schwarzmalerei herunter, wie er ihre Ängste nannte. «Mach dir keine Sorgen. Diese Männer sind heute wie einst vor allem einzelne neidische Wichtigtuer.»

Von Rudolf wusste sie zwar, dass Wilhelm II. sowohl ein Herrscher über das Deutsche Reich war, jedoch zugleich ein Vertrauter von Rudolfs Grossmutter Mathilde und ihrem künftigen Schwiegervater Max. Aber Betty las, dass er ein labiler, herrschsüchtiger Kaiser war, was sie beängstigend fand.

Sie feierte in Brüssel am 22. März ihren 18. Geburtstag ohne Rudolf, der nun im Ausschuss der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main Mitglied geworden war – mit Aussicht auf die Wahl in deren Vorstand. Er reiste erst Anfang April 1912 zu ihr.

In ihrem Tagebuch am Morgen des 11. April notierte sie, dass sich ihr Körper anders anfühlte. Wenige Tage später war sie noch verunsicherter, und morgens war ihr übel. Als sie mit ihrer Gouvernante darüber sprach, frohlockte diese, dass Betty bestimmt in guter Hoffnung sei. Zwar gestand sie sich ihre Veränderung bald selbst ein, doch ihrer Mutter erzählte sie zunächst nichts davon: Sie wollte ihr diese Botschaft, auf die sie sicher ungeduldig wartete, möglichst lange vorenthalten.

Einige Wochen später bestieg sie in Brüssel den Ostende-Wien-Express, der über Köln und Mainz nach Frankfurt fuhr. Ihr Gepäck füllte sieben Waggons. Ami, ihren schwarzen Belgischen Schäferhund, musste sie zurücklassen. Sie würde in Frankfurt einen jungen Deutschen Schäferhund erhalten. Auch ihre Gouvernante Rahel und ihre Zofen mussten in Brüssel bleiben, da Rudolf und seine Grossmutter Mathilde für Betty andere Bedienstete ausgesucht hatten.

Nach dem Abendessen vor ihrer Abreise hatte sie in der Bibliothek ihre Mutter zurückgewiesen, als diese ihr letzte Ratschläge als perfekte Ehefrau hatte geben wollen: «Danke. Doch ich möchte für mich sein und mich von meiner vertrauten Umgebung verabschieden.»

Mutter hatte mit keiner Wimper gezuckt, sich auf dem Absatz umgedreht und ihre Tochter wortlos zurückgelassen.

Betty war durch den Korridor und über die Strasse in den Park gerannt. Hinter ihren Bäumen, in denen sie vor zwei Wochen ­zusammen mit einem Küchenmesser ihre Initialen B & H eingeritzt und mit einem Herzen umrahmt hatten, hatte sie auf ihn gewartet.

Gleich darauf war er zu ihr gestossen. «Psssst.» Sie hatte gezittert und nach Worten gesucht.

Hubert hatte sie aufgefordert, die Augen zu schliessen. «Vertrau mir», hatte er gebeten, und sie hatte gespürt, wie er ihr etwas um den Hals hängte.

«Ich halte es kaum aus, deshalb gehe ich sofort wieder», hatte er ihr zugeflüstert, mit den Händen sanft ihre Schultern umfasst und sie an sich gedrückt. «Du darfst diesen Ort erst verlassen, wenn du auf zwanzig gezählt hast.»

Daheim im Bett hatte sie ­Huberts Amulett betrachtet und seine Worte nachklingen lassen. «Ein Erbstück von meiner Grossmutter. Sie würde sich bestimmt freuen zu wissen, dass ich es dir schenke.» Sie hatte die Kette in ihrer persönlichen Tasche versteckt. Das Amulett solle ihr Glück bringen, hatte Huberts Stimme ihr nachgeklungen.

Im Zug auf der Fahrt nahm Betty die Kette in die Hand und liess sie über eine Distanz von rund vierhundert Kilometern, während Landschaft, Häuser, Wiesen, Wälder und Kühe an ihr vorbeizogen, bis zur Ankunft in Frankfurt nicht mehr los.

Ihr neues Zuhause war ab Sommer 1912 die Villa Grüneburg und schliesslich vor allem das dreiflügelige Stadtpalais, das sogenannte Rothschild-Palais, samt Parkanlage, Pförtnerhaus und Orangerie an der Bocken­heimer Landstrasse 10.

Rudolfs Bruder Albert und seine Frau Miriam lebten mit Grossmutter Mathilde vorwiegend in der Grüneburg. Miriam war in Paris aufgewachsen und war zugleich Alberts Cousine. Sie war die Tochter von Ada, der Schwester seiner verstorbenen Mutter Minka – beide Töchter von Mathilde.

Schwiegervater Max wohnte mit Sohn Erich und Tochter Lucy, Rudolfs ledigen Geschwistern, die meiste Zeit ebenfalls an der Bockenheimer Landstrasse. Diese Adresse war die erste der ­Dynastie ausserhalb des Ghettos gewesen, anfänglich das Land- und Sommerhaus von Amschel Mayer, dem Erstgeborenen der ‹fünf Frankfurter›. Mittlerweile fuhren Pferde-Omnibusse und Trambahnen über die stark frequentierte Strasse am Anwesen vorbei.

Betty lernte bald Rudolfs Grossmutter Mathilde und überhaupt seine Familie besser kennen. Mit Rudolfs jüngerer Schwester Lucy, drei Jahre älter als sie, verstand sie sich von Anfang an bestens. Ihre Schwägerin war allerdings oft unterwegs. Von überallher verschickte sie kunstvolle Postkarten: Dresden, München, Berlin, dann Wien, Rom, Paris oder aus der Villa ­Britannia im Seebad Ostende. Auch in der guten Luft von St. Moritz in den Schweizer Bergen weilte Lucy gerne, oft zusammen mit der ganzen Familie, meist im Palace Hotel oder in der Villa Joos.

Aus Rudolfs Erzählungen wusste Betty, dass seine Familie dort genauso wohltätige Stiftungen unterstützte und für gute Zwecke spendete. Daher hatte die Gemeinde St. Moritz der Familie nach dem Hochwasser 1910 auf dem Platz vor dem Rathaus den Mauritius-Brunnen gestiftet. Die Inschrift ‹Der edelen Wohltäterin Freifrau Max von Goldschmidt-Rothschild› an der Säule wurde Rudolfs Mutter Minka gewidmet, die 1903 verstorben war.

Rudolfs ältere Schwester Lili wohnte mit Pips, dem 30-jährigen Philipp Schey von Koromla, in Frankfurt an der nahe gelegenen Taunusanlage 12. Lili war elf Jahre älter als Betty. Sie und Pips hatten zwei Töchter: die bei Bettys Ankunft zweijährige Minka Ellen und das Baby Alix Hermine. Wie Lucy war Pips ein Mäzen unter anderem von Rainer Maria Rilke und anderen Literaten.

Rudolf fuhr mit Betty in der Kutsche oder in der Limousine hin und wieder durch die Stadt Frankfurt und zeigte ihr Gebäude und Plätze, die mit der Dynastie verbunden waren. Dazu gehörte das schmale, mehrstöckige Haus, in dem Mayer Amschel und die Dynastiemutter Gutle im Ghetto mit den zehn Kindern ­gewohnt hatten – also auch mit Rudolfs und Bettys Urgrossvätern Carl und James: das Haus ‹Zum Grünen Schild› an der Börnestrasse 26, der einstigen Judengasse 148.

Einmal spazierte Rudolf mit Betty durch den alten Friedhof Battonstrasse und besuchte den Grabstein ihres gemeinsamen Ururgrossvaters Mayer Amschel, der 1812 als einer der letzten ­Toten dort begraben worden war. Danach kutschierte Rudolf mit ihr zum Rat-Beil-Friedhof. Dort befanden sich die Grabsteine von Ururgrossmutter Gutle sowie jene von Rudolfs Grossvater ­Willi, seiner Mutter Minka und anderen Familienmitgliedern.

Betty war hochschwanger und blieb am liebsten daheim in der Villa Grüneburg. Sie telefonierte manchmal mit Claude in Paris, schrieb Briefe an Henri und Freunde und gab vor, dass sie sich gut eingelebt habe. Dass sie Heimweh hatte und immer noch böse war, dass ihr Vater und Grossvater Gustave sie nach Frankfurt verheiratet hatten, verschwieg sie allen.

«Es wird bestimmt ein Sohn», sagte sie eines Morgens am Frühstückstisch zu Rudolf, nachdem ihr Grossmutter Mathilde am Tag zuvor ans Herz gelegt hatte, sie möge doch bitte einen Stammhalter zur Welt bringen.

«Aber sicher», erwiderte Rudolf, während er die Zeitung las und ihr kurz zulächelte.

Sie schaute hinüber zu Rudolfs Geschwistern, die ebenfalls am Tisch sassen. Lucy hob rasch den Kopf und sprach mit Erich weiter. Grossmutter Mathilde und Rudolfs Vater Max nickten lediglich. Als sie sich im Stuhl zurücklehnte und durchs Fenster hindurch die im Wind tanzenden Schneeflocken beobachtete, hörte sie Rudolf auf einmal anfügen: «Ich will kein Mädchen.»

Am 19. Januar 1913 war es so weit. Mit einer Hausgeburt brachte Betty einen Stammhalter zur Welt: Ferdinand Wilhelm Max Gustav von Goldschmidt-Rothschild. Im Wochenbett malte sich Betty die Enttäuschung und Katastrophe aus, wenn es ein Mädchen gewesen wäre. Sie sehnte sich nach Brüssel. Ihr standen die Hebamme, Zofen, Ammen, Kindermädchen und Gouvernanten bei. Auch die medizinische Versorgung daheim war gewährleistet. Diese war insofern nötig, als das zerbrechliche Baby die Nahrung zunächst nicht ertrug und bald schwächelte, was Betty in ihrer neuen Rolle noch mehr überforderte.

Ihren Kleinen in den Armen zu halten, berührte und verunsicherte sie zugleich. Zwar hätte sie Ferdinand gerne gestillt, doch das gehörte sich nicht. Sie fühlte sich dadurch noch mehr darin bestätigt, dass sie unfähig für die Mutterrolle sei. Lieber hätte sie ihren unterforderten Intellekt genährt. Mal war sie wütend, mal traurig. Doch sie konnte sich weder der eigenen Familie in Brüssel noch ihrer neuen in Frankfurt anvertrauen.

Betty ist im Sessel eingenickt und schrickt hoch. Rudolf hat sich aus dem Fumoir entfernt. Sie lehnt sich zurück und atmet heftig. Sie hat von Frankfurt geträumt, von Ferdinand, von ihrer Ohnmacht und davon, wie überfordert und einsam sie damals war. Als sie zum Fenster geht und ihre Hand nach dem Vorhang greift, denkt sie an die ferne Zeit zurück, in der sie so oft am Fenster gestanden und sich nach einem anderen Leben weit weg von der hessischen Kaiserstadt gesehnt hat.

Ihre Gedanken schweifen weiter und halten bei Henri inne, der kurz nach der Geburt ihres Sohnes erneut auf Reisen gegangen ist, um Grosswild in Südafrika zu jagen und Goldminen in Belgisch-Kongo zu besuchen. Sie holt aus dem Sekretär einen Brief von ihm hervor. Achtzehn Seiten graues, steifes Papier mit Wasserzeichen.

«Am 15. Juni schiffe ich in südliches Afrika ein», hat er damals im Jahr 1913 in gleichmässig geschwungener Schrift mit Feder und Tinte geschrieben. Zelte und Waffen seien vorausgeliefert worden, in Livingstone kümmere sich jemand um Pferde, Träger und ein Ochsenfuhrwerk. «Man hat für mich einen Bezirk im Nordwesten von Rhodesien reserviert, wo ich eine Vielfalt an Antilopen, Büffel und, wenn ich Glück habe, einen Löwen vorfinde. Die Karawane setzt sich ­zusammen aus mir, einem ungarischen Naturwissenschafter namens Pap und einem rhodesischen Guide und Kleinbauern. Er heisst Boer Cooper. Wir reiten Ponys, und 20 Büffel ziehen die Wagen mit Gepäck, das auf einundzwanzig Kisten verteilt worden ist.»

Henris Zeilen erzählen von Verfolgungen in der flirrenden Hitze, von der Suche durch zwei Meter hohe Gräser oder von frischem, zartem Grün, das aus der Asche der von den Eingeborenen niedergebrannten Triebe herauswuchs. Er schreibt von Termitenhügeln, hinter denen er versteckt das schönste Exemplar in der Herde aussuchte. «Sobald die Wahl getroffen ist, legt man das Fernglas hin, schultert das Gewehr und schiesst – aber oft das falsche Tier, weil das ausgewählte gerade durch den Busch verdeckt ist. Das ist das universelle Gesetz der Demütigung der Jäger.»

Sie will den gesamten Brief durchgehen, um in ihrer Vorstellung mit ihm die Reise zu unternehmen. Sie liest von langen ­Tagen des Lauerns. «Die Befriedigung des ambitiösen Antilopenjägers ist erst gestillt, wenn er zudem zwei seltene Tiere schiessen kann: den Büffel und den Kudu.» Nach einer Serie voller Enttäuschungen entdeckte Henri endlich eine Herde Kudus. «Wir sahen um die 30 Weibchen. Ihr Anführer war auf einem Termitenhügel aufgerichtet. Seine dunkle Silhouette, überragt von riesigen Hörnern, hob sich mit der untergehenden Sonne vom Himmel rosa ab.» Sie stellt sich ihren Bruder vor, wie er im Lichtkegel der Petrollampe seine Eindrücke und Erlebnisse niederschreibt, neben ihm das wärmende Feuer in der kalten Afrikanacht und über ihm der funkelnde Sternenhimmel.

«Nach fünf Minuten stiessen wir auf frische Büffelspuren. Sie führten uns direkt in die schrecklichen Dornengebüsche. Bald hielt der Guide inne. Im selben Moment nahm ich einige Meter vor mir eine grosse schwarze Masse wahr. Schnell drückte ich ab und sah gerade noch zwei Büffel, die ins Dickicht sprangen. Ein Tier blutete reichlich. Wir verfolgten seine Spur. Plötzlich verharrte Pap. Aus dem Gebüsch ragte der Kopf des ruhenden Büffels, in einer Distanz von vielleicht 30 Metern. Ich schoss, das Tier fiel.» Als er dessen Wirbelsäule berührt habe, sei das Tier aufgestanden und habe ihm ins Gesicht geblickt. «Ich schoss in seine Stirnmitte, er fiel tot um», liest Betty, bevor sie die Blätter faltet und ins Couvert zurücklegt.

Am falschen Platz und in der unpassenden Rolle

Ferdinand war ein hübscher Junge: schwarz gelockte Haare, grosse braune Augen, geschwungene Lippen und wie seine Mutter ebenmässige Gesichtszüge und eine reine weisse zarte Haut. Sein Dasein erleichterte Betty das Leben, obwohl es ihr unverändert schwerfiel, in Frankfurt heimisch zu werden. Trotz Rudolfs aufmunternden Worten, mit denen er sie regelmässig tröstete, fühlte sie sich unglücklich. Natürlich liess sie sich möglichst nichts anmerken und versuchte es mit jedem Tag aufs Neue. Doch sie fand sich am falschen Platz und in einer unpassenden Rolle. Einmal mehr beneidete sie ihren Bruder insgeheim um seine Reisen und beruflichen Aktivitäten.

Gerne hätte sie mehr Kontakt zu ihrer Schwägerin Miriam ­gepflegt, doch sie war oft unterwegs. Mit der Pariserin teilte ­Betty den intellektuellen Austausch und das unglückliche Frausein innerhalb der Dynastie. Doch Miriam blieb kinderlos, weshalb sie und Albert vor der Trennung standen und Miriam oft in ihrer Heimatstadt Paris weilte oder sich irgendwo mit Bekannten oder Verwandten traf.

«Ich bin weder in Rudolf verliebt noch glücklich mit ihm – und kann keine Deutsche werden», sprach sich Betty bei Mi­riam aus, als sie sich einmal beide in der Orangerie neben dem Palais trafen. «Mit neunzehn würde ich gerne Schmetterlinge im Bauch tanzen spüren! Zudem ist die Familie fürchterlich traditionell, Mathilde isst nur koscher – und ich bin und bleibe eine Fremde.»

Miriam legte ihre Hand auf Bettys Knie. «Ich weiss genau, wie du dich fühlst – und deshalb bin ich oft weg. Wenigstens hast du einen Stammhalter geboren, sei froh – und sowohl Grossmutter Mathilde wie auch Rudolfs Geschwister sind dir gut ­gesinnt. Vor allem Lucy und ebenso Lili. Du bist eine wunderschöne, gebildete und intelligente Frau.»

Betty nickte scheu. «Wie du!» Dass sie sich jedoch als Mut- ter überfordert fühlte und vor allem die Atmosphäre des preussischen Militarismus in der Stadt kaum aushielt, liess sie unerwähnt. Ebenso, dass sie vor ein paar Tagen erfahren hat, dass Rudolf sie betrügt – und sie das akzeptieren muss, wie viele andere Frauen in der Dynastie es taten. «Weisst du noch», fragte sie stattdessen Miriam, «wie wir in der Kutsche der Menge vorgeführt wurden?»

Miriam nickte ihr zustimmend zu und zog sie an der Hand auf und zwischen den gezüchteten Orchideen hindurch.

Rudolf hatte den Ehrenbanner der Grossherzogin Luise von Preussen gewonnen, weshalb er mit seiner Familie in einem mit Blumen geschmückten offenen Wagen – es war der 4. Septem- ber 1913 – durch die Stadt chauffiert wurde. Sein Vater Max sass vorne neben dem Chauffeur, Miriam und Betty waren im mittleren Sitzbereich platziert worden, Rudolf und Albert in der Reihe dahinter. «Während uns die Menge am Strassenrand beim Vorbeifahren zujubelte», gestand Betty Miriam, «wäre ich am liebsten davongerannt, weil ich mich schämte und alles andere als zugehörig fühlte.»

Während Rudolf oft ausser Haus war, verbrachte Betty die meiste Zeit daheim. Die drei von-Goldschmidt-Rothschild-Brüder Albert, Rudolf und Erich waren beliebt und gern gesehen auf Polo- und Rennplätzen und bei den Frauen. Ihr Ruf als Dandy eilte ihnen voraus, wie Betty schon mehrfach gehört hatte. Trotz und wegen dieser Kontakte in ihren Kreisen fühlte sie sich als Gefangene im goldenen Käfig.

Gerne verfolgte sie dagegen in den Zeitungen die unruhige politische Lage in Deutschland und fragte sich, was aus ihr werden würde oder was sie tun könnte, um dies zu ändern. Doch sie hörte etwa von ihrer Mutter nur, wie diese am Telefon von ihr forderte, sich endlich ihrem vorbestimmten Schicksal zu fügen. Zu ihrer jüngeren Schwester Renée hatte Betty wenig Kontakt. Betty fand ihren Alltag langweilig und fühlte sich intellektuell unterfordert. Einzig bei Einladungen konnte sie sich ein wenig austauschen, doch Betty war mit ihrem französischen Akzent je nach Gästen eine Aussenseiterin.

Selten besuchte sie mit Miriam ein klassisches Konzert oder ging mit Mathilde in die Oper. Manchmal lud sie zu einem Hauskonzert oder folgte ab und an mit Lucy Einladungen anderer, wie etwa zur Einweihungsgala des Heimes für alleinstehende Damen der Rose-Livingstone-Stiftung. Oder sie begleitete Lili und Pips zur Feier für das Luftschiff ‹Viktoria Luise›. Einmal musste sie mit Rudolf und der ganzen Familie an einem Empfang von Kaiser Wilhelm II. teilnehmen, der mit einer neumodischen Benzinkutsche von Höchst durch die von Menschen gesäumten Strassen in die Stadt chauffiert wurde. Wieder wäre sie am liebsten davongerannt.

Als der Main im Winter 1913/1914 gefroren war, spazierte sie, stets begleitet von Gouvernanten, mit Miriam, Lucy und Lili trotz gnadenloser Kälte mit den Kindern auf dem schneebedeckten Fluss umher oder sie zogen gar auf der Schlittschuhbahn im Neugarten ihre Runden.

An schönen Tagen flanierte sie für sich oder mit Ferdinand durch das Anwesen. Alleine an der Bockenheimer Landstrasse beschäftigte Schwiegervater Max achtzehn Gärtner, um den Park im Stile eines englischen Landschaftsgartens zu betreuen. Den gotischen Turm empfand Betty als Unding, dagegen liebte sie die Pavillons, die im Treibhaus gezüchteten wunderschönen Zierpflanzen, die Orangerie mit der exotischen Pflanzensammlung, und sie besuchte gerne die Remisen und das nahe gelegene Stallgebäude.

In dieser doppelgeschossigen Dreiflügelanlage konnten die Kutschen über ein Aufzugsystem vom ersten Stock ins Erdgeschoss befördert werden. Oft schaute sie bei den Pferden vorbei und wäre gerne mehr im Park ausgeritten, was sie alleine jedoch nicht wagte.

Abgesehen von Henris Zwischenhalt kurz nach Ferdinands Geburt im Januar, bekam Betty in Frankfurt weder von ihren Eltern noch von Claude oder Renée Besuch. Rudolf war zwar freundlich und ihr mangelte es an nichts, doch zärtliche Gefühle oder gar Liebe verspürte sie auch nach Monaten nicht für ihn – und sie war sich sicher, dass es ihm genauso mit ihr erging.

Um auf andere Gedanken zu kommen, vertritt sich Betty in der Zimmerflucht zwischen Fumoir und Bibliothek die Beine. Durch die Fenster sieht sie draussen den Gemüsegärtner Joss und die Küchenhilfe, die dabei sind, Zutaten für den Chefkoch zu pflücken. Sie nutzen die letzten Sonnenstrahlen, bevor die Dämmerung einbricht. Aus dem grossen Saal nebenan sind schnelle Schritte von Bediensteten zu vernehmen. Dann knarrt die Tür, und es wird still.

Scrumpi trottet zu ihr her und lehnt sich an ihre Wade. «Bon chien, mein treuer Liebling», sagt sie, streichelt ihm über das Fell und geht zum Kachelofen, um sich auf dem warmen Kissen kurz hinzusetzen. Sie denkt an die bereits angefangenen Umbauarbeiten in ihrem zukünftigen Daheim in Genthod und ist froh, dass ihr ‹Bubbles› sich darum kümmert – und überhaupt, dass Ferdinand sie seit einigen Jahren als Berater in Geldangelegenheiten unterstützt. Sie würde es ihrem Sohn gegenüber nie zugeben, doch mit ihren 66 Jahren muss sie sich eingestehen, dass sich viele Dinge zu schnell verändern und sie froh um seine Hilfe ist. «Schliesslich habe ich nicht nur für mich, sondern ebenso für Rudolf zu schauen», denkt sie und erinnert sich, dass die schwierigste Zeit für sie in Frankfurt nach Kriegsausbruch erst begonnen hat.

Eine Geburt, Krieg und Tod der Mutter

Anfang 1914 reiste Betty alleine von Frankfurt nach Paris, um am 22. März mit ihrer Familie im Hotel von Mutter den zwanzigsten Geburtstag zu feiern. Im Mai kehrte Betty in das prüde wilhelminische Kaiserreich und zu Ferdinand und Rudolf zu- rück. Ihr Mann empfing sie freudig und verständnisvoll und säte in ihr sogar die Hoffnung, dass sie sich in Frankfurt vielleicht endlich heimisch fühlen könnte.