Amazon exportiert seine Arbeitsbedingungen nach Europa – „ist die Hölle“

2022-08-27 00:22:58 By : Mr. Wilson zhou

Weil Amazon-Beschäftigte in Deutschland streikten, expandierte das Unternehmen nach Osteuropa. Dort führten die weniger strengen Arbeitsgesetze zur Rekordproduktion.

Der erste ganztägige Streik in einem Amazon-Warenlager fand am 14. Mai 2013 statt. 700 Beschäftigte streikten vor drei Warenlagern in Deutschland, der größte Markt des Unternehmens außerhalb der USA. Sie trugen Banner, auf denen stand „Heute kämpfen wir für RESPEKT“, und forderten höhere Löhne, mehr unbefristete statt befristete Verträge und ein Ende der Produktivitätsquoten. Ein Drittel der Arbeitskräfte in den drei zentralen Logitsikzentren legte an diesem Tag die Arbeit nieder – eine solche Welle kollektiver Aktionen hatte Amazon noch nie erlebt. „Es fühlte sich wie ein historischer Tag an“, sagte Andreas Gangl, der 2008 beim Amazon-Warenlager in Bad Hersfeld begonnen hatte und in der Retourenabteilung arbeitete. „Ich glaube, das war der beste Tag der Welt.“

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Aber der Versandgigant hatte andere Pläne im Hinterkopf. Zwei Monate nach den ersten Streiks in Deutschland, verkündete Amazon, dass es das erste Mal nach Mitteleuropa expandieren wolle. Im Laufe der nächsten acht Jahre eröffnete das Unternehmen zwölf neue Logistikzentren in den Nachbarländern Polen, Tschechien und der Slowakei eröffnet. Mehr als 30.000 Arbeiter:innen befördern nun Produkte aus ihrem Land in die Hände von westeuropäischen Konsument:innen für die Hälfte der Löhne ihrer deutschen Kolleg:innen. Und ohne den Arbeitsschutz, der in Deutschland gerade erst erkämpft wurde.

Eine BuzzFeed News US Investigativreportage, basierend auf vielen Dokumenten und dutzenden von Interviews zeigt, dass die Arbeitsbedingungen in zentraleuropäischen Amazon-Zentren einem Dampfkessel ähneln, in dem die Mitarbeiter:innen oft bis zur Erschöpfung arbeiten, um immer höhere Quoten zu erfüllen und eine Kündigung zu vermeiden. Polnische Behörden stellten fest, dass die körperliche Belastung der Arbeitnehmer:innen über dem gesetzlich zulässigen Maß lag. Interne Daten zeigen, dass die Produktionserwartungen an mindestens ein Drittel der Lagerarbeiter:innen jede Woche steigen. Mitarbeiter:innen in drei mitteleuropäischen Betrieben berichteten BuzzFeed News US, dass sie regelmäßig erleben, wie Kolleg:innen vor Erschöpfung in Ohnmacht fallen. Vier Mitarbeiter:innen berichteten, dass sie gemaßregelt wurden, weil sie versucht hatten, sich zu organisieren oder sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen. Ein ehemaliger Personalleiter in Stettin, Polen, sagte, er habe im Laufe eines Jahres Hunderte von Mitarbeiter:innen entlassen, darunter auch einige, die mehr als drei Krankheitstage in einem Monat in Anspruch genommen hatten. „Warum bauen sie Warenlager in Polen?“, fragt der Personalchef. „Weil hier nicht Deutschland ist.“

Die Expansion in Mitteleuropa war beispiellos. Über Jahre hinweg waren Polen, Tschechien und die Slowakei die einzigen Länder, in denen Amazon-Warenlager standen, es aber keine Amazon-Webseite gab – und auch wenn in Polen 2021 zwar eine Seite online gestellt wurde, ist dies in den anderen beiden Ländern nicht der Fall. Zum ersten Mal ging Amazon in ein Land nur wegen der Arbeitskräfte, ohne ein gleichzeitiges Interesse an den vorhandenen Konsument:innen zu haben. Dieser Plan ging auf. Innerhalb eines Jahres wurden die Warenhäuser in Polen die produktivsten des gesamten Unternehmens weltweit, indem Hunderttausende Pakete jeden Tag nach Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern geschickt werden. Diese Strategie geht zurück auf ein Modell, an dem Amazon schon seit Jahren feilt: Das Unternehmen entwickelte die Lager mit dem höchsten Warenvolumen durch die Ausbeutung von günstiger Arbeitskraft, in Ländern mit Arbeitsbedingungen, die ähnlich zu dem Land sind, in dem Amazon groß wurde, den USA.

In Polen ist Amazon in der Lage, einen Betrieb zu führen, der „näher an dem dran ist, was die USA tun“, sagte ein ehemaliger leitender Manager in Polen, der aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens Amazon um Anonymität bat. Amazons produktivste Lagerhäuser befanden sich lange Zeit in den USA. Als das Unternehmen nach Polen und Mitteleuropa expandierte, exportierte es bestimmte effizienzsteigernde Taktiken, die unter amerikanischem Arbeitsrecht entwickelt und verfeinert wurden. Viele Arbeiter:innen in diesen Ländern begrüßten die Amazon-Warenlager, die zu den größten Lagerhäusern Mitteleuropas gehören und einen ganzen Wald gelber Regale haben, in denen die unvergleichliche Produktvielfalt des Unternehmens gelagert wird. Außerdem gibt es eine hochmoderne Cafeteria mit Großbildfernsehern, Videospielkonsolen und bunten Stühlen. Für eine Generation von Arbeitnehmer:innen, die nach dem Kalten Krieg aufgewachsen ist, war die Ankunft von Amazon ein Symbol für eine neue Phase des Übergangs ihrer Länder vom ehemaligen Ostblockkommunismus zum Kapitalismus mit westlicher Prägung.

Amazon zahlt in allen Ländern höhere Löhne als den Mindestlohn, bietet an, bis zu 95 Prozent der Kosten für Schul- oder Berufsausbildungsprogramme für Mitarbeiter:innen zu übernehmen, die länger als ein Jahr im Unternehmen tätig sind und stellt einen Busservice auch für Entfernungen von mehr als 160 Kilometer zur Verfügung – in Polen und Tschechien kostenlos, in der Slowakei für 24 Euro im Monat. Mehr als ein Dutzend mitteleuropäischer Arbeitnehmer:innen, die mit BuzzFeed News US sprachen, waren stolz darauf, Teil eines der erfolgreichsten Unternehmen der Welt zu sein. „Für mich ist das hier Amerika“, sagte ein Arbeiter in Posen, der um Anonymität bat, weil er befürchtete, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. „Das ist Amerika in Polen.“

Wie in Amerika profitiert Amazon in Polen nicht nur von lockeren Anforderungen an die Ausstattung des Arbeitsplatzes, sondern auch von geringeren Konsequenzen bei Verstößen gegen das Arbeitsrecht. Richter:innen haben in mindestens drei Fällen in den Jahren 2018 und 2019 entschieden, dass das Unternehmen unrechtmäßige Entlassungen durchgeführt hat. Nach polnischem Recht können einzelne Urteile zwar zukünftige Klagen beeinflussen, aber keine Änderung der Praktiken der Unternehmen erzwingen. Laut einer Auswertung polnischer Gerichtsdokumente durch BuzzFeed News US stellte die Aufsichtsbehörde zwischen 2014 und 2018 bei zwölf Besuchen in polnischen Warenlagern 117 Verstöße fest und verhängte Geldstrafen in Höhe von insgesamt 4.609 US-Dollar – das entspricht weniger als sechs Monatsgehältern für die am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter:innen. „In 30 Jahren habe ich noch nie ein Unternehmen gesehen, das Vorschriften so effektiv umgangen hat wie Amazon“, sagt Jarosław Łucka, ein ehemaliger Direktor für Unternehmens-Compliance, der 2018 im Auftrag eines polnischen Gerichts das Werk in Posen inspizierte. „Sie kümmern sich nicht um das Gesetz. Sie bezahlen einfach die Geldstrafen und fertig.“

Als Antwort auf eine Liste von Fragen, die wir für diese Recherche zusammengestellt haben, sagt Amazon-Sprecher Stephan Eichenseher, dass das Unternehmen die Standorte für Logistikzentren „auf der Grundlage mehrerer Faktoren wie Verkehrsinfrastruktur, dem lokalen Arbeitsmarkt, Geschäftsvoraussetzungen und Bauzeiten“ auswählt. Er wies Behauptungen zurück, das Unternehmen habe Mitarbeiter:innen in Mitteleuropa schlecht behandelt. „Es liegt in unserem Interesse, die besten Arbeitsbedingungen zu schaffen und die besten Talente zu halten“, sagte er. „Wir sind immer bestrebt, unser Bestes für unsere Mitarbeiter:innen und unsere Kund:innen zu tun, aber wir wissen auch, dass wir immer noch mehr tun können. Unsere Priorität ist es, stets alle geltenden Arbeitsgesetze einzuhalten, und wenn etwas nicht stimmt, gehen wir der Sache nach und handeln sofort.“ In den USA haben Amazon-Beschäftigte in den letzten Monaten begonnen, die Aktionen des Unternehmens gegen die Gründung von Gewerkschaften zu schwächen: Ein Werk in New York stimmte im April für die Gründung einer Gewerkschaft, und zwei weitere Werke wehren sich gegen die Schließung, indem sie beim National Labor Relations Board Klage einreichten und das Unternehmen beschuldigten, gegen das Arbeitsrecht zu verstoßen.

Laut Gewerkschaftsvertreter:innen und fünf Beschäftigten stößt die gewerkschaftliche Organisierung in Polen jedoch weiterhin auf Widerstand, den ihre Kolleg:innen in Westeuropa umgehen konnten. Als in Amerika die Bemühungen, Gewerkschaften zu gründen, in den letzten drei Jahren an Fahrt gewannen, „begannen die Manager in Posen, sich uns gegenüber immer aggressiver zu verhalten“, so Magda Malinowska, eine Gewerkschaftsorganisatorin, die seit 2014 in der Anlage in Posen arbeitet. „Die Manager:innen sagten uns, dass diejenigen, bei denen rauskommt, dass sie in der Gewerkschaft sind, die schlechtesten Jobs auf der Etage bekommen. Viele Leute haben Angst, der Gewerkschaft beizutreten.“

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Obwohl sie fast acht Jahre lang an der Gründungsvorbereitung beteiligt war, ohne irgendwelche Konsequenzen zu bekommen, sagt Malinowska, dass sie in den Monaten nach Beginn der Pandemie sich plötzlich wie eine Zielscheibe fühlte, weil Manager :innen sie für die Verbreitung von Informationen über die Gewerkschaft während ihrer Arbeitszeit ermahnten. Als ein Kollege während einer Nachtschicht im September starb, so Malinowska, verließ sie das Gebäude, um den Anwalt der Gewerkschaft anzurufen. Ihre Vorgesetzten beschuldigten sie, Fotos von Sanitäter:innen gemacht zu haben, die den Leichnam in einen Krankenwagen transportierten und bezeichneten das als Verstoß gegen die Unternehmensrichtlinien. Eichenseher, der Amazon-Sprecher, lehnte es ab, genau zu sagen, gegen welche Richtlinie Malinowska verstoßen hatte, sagt aber, dass sie sich „geweigert habe, angemessenes Sozialverhalten an den Tag zu legen“ und bezeichnete den Vorfall als „eine inakzeptable und respektlose Handlung“.

Zwei Monate später erhielt Malinowska die Mitteilung, dass sie entlassen wurde.

Kurz nachdem Amazon 2014 ein Warenlager in Posen, Polen, eröffnet hatte, reiste eine Gruppe von Führungskräften in die USA, um die produktivsten Lager des Unternehmens in Tennessee und Delaware zu besichtigen. „Wir waren dort, um zu sehen, wie es dort gemacht wird“, sagte ein leitender Manager auf der Reise, der um Anonymität bat, um seine gute Beziehung zum Unternehmen zu wahren.

Anders als in Deutschland, wo jede Gruppe von mindestens zehn Beschäftigten eine Gewerkschaft gründen und legal streiken kann, muss in Polen mehr als die Hälfte eines Betriebs zustimmen, unabhängig davon, ob die einzelnen Beschäftigten in der Gewerkschaft sind. Während die einzelnen Logistikzentren in Deutschland und anderswo in Europa als eigenständige Einheiten registriert sind, gelten die zehn Warenlager in Polen per Gesetz als ein einziger Betrieb. Das bedeutet, dass ein Streik die Zustimmung von mindestens 10.000 Beschäftigten in allen Standorten des Landes erfordert. In Deutschland – wo Unternehmen mit mindestens 2.000 Beschäftigten die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat an nicht leitende Angestellte vergeben müssen, damit die Belegschaft ein gleichberechtigtes Mitspracherecht bei den Arbeitsregulierungen hat – beschäftigt Amazon daher an keinem der 15 Amazon-Standorte mehr als 1.800 Mitarbeiter:innen. Ähnliche „Mitbestimmungs-“Gesetze gelten für Amazon-Lager in ganz Westeuropa, wo nur ein einziges Fulfillment-Center mehr als 3.000 Mitarbeiter beschäftigt. Im Gegensatz zu den mitteleuropäischen Ländern, in denen selbst die größten Unternehmen ihren Mitarbeiter:innen nicht mehr als ein Drittel der Sitze im Aufsichtsrat zugestehen müssen. Sowohl in Posen als auch in Breslau und Prag beschäftigt jedes Fulfillment-Center zu den Spitzenzeiten rund 7.000 Mitarbeiter – eine Größenordnung, die mit den US-Einrichtungen vergleichbar ist. Mit der mit Amerika vergleichbaren Größe kam ein Ansturm von Aufträgen und dazu der Druck, diese so schnell wie die Warenlager auf der anderen Seite des Ozeans zu bearbeiten. Als er die amerikanischen Lagerhäuser beobachtete, war der Senior Manager beeindruckt, wie viel größer sie im Vergleich zu denen in Deutschland waren, mit Reihen von langen Packstationen und mehrstöckigen „Picking-Türmen“, einer Bibliothek an Regalen mit Tausenden von sortierten Produkten. Er machte sich Notizen darüber, wie die Amerikaner:innen den Warenfluss die ganze Zeit aufrechterhielten. Nach seiner Rückkehr nach Posen installierte er eine längere Rutsche für ausgehende Pakete und eine manuelle Adressstempelstation.

Die Aufrüstung der Anlagen in Polen wurde rechtzeitig vor dem vorweihnachtlichen Ansturm im Jahr 2014 abgeschlossen. In einer Telefonkonferenz mit hochrangigen Amazon-Mitarbeiter:innen, darunter Steve Harman, dem Leiter des Europageschäfts, sagte ein leitender Mitarbeiter des Lagers, er glaube, dass Posen den in den USA aufgestellten Produktivitätsrekord brechen könne, so der ehemalige leitende Manager aus Polen, der an der Konferenz teilnahm. Die Spitzenmanager:innen stimmten dem zu. Als die Weihnachtszeit kam, so der Senior Manager, leitete das obere Management von Amazon in Europa mehr Bestellungen als üblich nach Polen um, um zu sehen, wie viel seine Warenlager bei voller Kapazität verarbeiten konnten. „Sie wollten diesen Sieg“, sagte der leitende Angestellte. Das Lager in Posen hatte in jenem Winter einen Rekord von 1,02 Millionen Paketen innerhalb von 24 Stunden. Damit war es das erste in Europa, das an einem Tag eine siebenstellige Zahl von Paketen auslieferte und lag nur knapp unter dem Delaware-Rekord von 1,1 Millionen, so der ehemalige Senior Manager. Im darauffolgenden Dezember, als die Bestellungen wieder an polnische Warenlager weitergeleitet wurden, übertraf das Lager in Posen die amerikanische Marke, ein Rekord, der drei Tage anhielt, bevor er von dem Standort in Breslau übertroffen wurde. „Wir haben ihn gebrochen“, sagte ein anderer ehemaliger Manager, der in der Breslauer Einrichtung tätig war.

„Die schlimmsten Tage waren die, an denen wir einen Rekord aufstellen mussten“, sagte Malinowska. Die Vorgesetzten setzten die Arbeiter:innen noch mehr unter Druck, indem sie immer lauter werdend alle daran erinnerten, dass ihre Arbeitsplätze auf dem Spiel standen. „Für uns ist es die Hölle.“

Als im Jahr 2015 in Westeuropa gestreikt wurde, wurde in Posen und Breslau die Stimmung antizipiert. In Erwartung von Streiks in Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Italien und Spanien während des Höhepunkts des „Prime Day“ Mitte Juli kündigten die Manager in Posen eine obligatorische Stunde mehr Arbeitszeit für alle Beschäftigten an. Als Akt der Solidarität mit den Streikenden organisierte eine Gruppe von Beschäftigten in Posen eine kurze Arbeitsniederlegung. In der elften Stunde ihrer Schicht legten sie in jeden Behälter, der ihren Arbeitsplatz verließ, nur einen einzigen Artikel – statt mehrerer bis zu einem Dutzend – und verursachten so einen Rückstau auf den Förderbändern, die die Artikel zum Verpackungsbereich transportierten. Die Verlangsamung führte zu einem Einbruch der Verarbeitungsgeschwindigkeit um 30 Prozent, so der ehemalige leitende Angestellte.

Amazons System wird streng überwacht, wobei die Artikel in jeder Phase von den Mitarbeiter:innen gescannt werden. Deshalb dauerte es nicht lange, bis die Manager 16 Personen identifizierten, die mit der Aktion in Verbindung standen. Alle wurden entlassen oder unterzeichneten gegenseitige Aufhebungsverträge, wie die Gewerkschaftsvertreter:innen des Standortes mitteilten. „Es gibt Situationen, in denen wir keine Möglichkeit für eine weitere Zusammenarbeit mit dem Mitarbeiter:innen sehen“, sagte Amazon-Sprecher Eichenseher auf eine Frage zu dem Vorfall. „In diesem Fall hatten wir keine andere Wahl, als von unserem Recht Gebrauch zu machen, den Arbeitsvertrag zu kündigen.“ Mindestens zwei von ihnen verklagten das Unternehmen wegen unrechtmäßiger Kündigung, verloren aber. Das polnische Recht war nicht auf ihrer Seite. Wie überall in den Amazon-Lagern ist das Management des Unternehmens in Polen, der Slowakei und Tschechien darauf angewiesen, dass ständig neue Arbeitskräfte hinzukommen.

Um die freien Arbeitsplätze in der Region zu besetzen, hat Amazon weit über die nächstgelegenen Städte hinaus rekrutiert und Werbekampagnen in Städten im Umkreis von 160 Kilometern durchgeführt. Daniela, die etwa 50 Kilometer vom Warenlager in der Slowakei entfernt wohnt, erfuhr von der Stelle durch einen Mann, der an einer Bushaltestelle Flyer verteilte. Henryk, der in Lobez wohnt, etwa 70 Kilometer vom Warenlager in Stettin entfernt, erfuhr von einem Nachbarn von der Stelle. Kate, die etwa 65 Kilometer vom Prager Lagerhaus entfernt wohnt, sah eine Online-Anzeige. Ein Arbeiter in Prag und ein anderer in Stettin hatten in der Ukraine gelebt, als sie auf eine Facebook-Anzeige einer Zeitarbeitsfirma stießen. Andere sahen Anzeigen auf Bussen und Plakatwänden. Der ehemalige Personalverantwortliche in Stettin sagte, er habe auf der Rückseite eines Stapels an Bargeld, den er an einem Geldautomaten abgehoben hatte, einen Zettel gefunden, auf dem offene Stellen in der neuen Einrichtung der Stadt angekündigt wurden. Gabriel, 57, der einen Job in der slowakischen Niederlassung bekam, lebt in Nové Zámky, einem ländlichen Dorf, in dem die Arbeitsmöglichkeiten geringer sind als in größeren Städten wie Bratislava. Er arbeitete in der Retourenabteilung. Dort müssen die Mitarbeiter:innen zurückgeschickte Kartons auspacken, die Artikel auf Schäden untersuchen und sie dann danach sortieren, ob sie weiterverkauft werden können. Obwohl er die gleichen Aufgaben wie Gangl in Deutschland hatte, war ihm nicht bewusst, dass er unter anderen Bedingungen arbeitete als seine Kolleg:innen im Westen. Während Gangl und seine Retouren-Kolleg:innen in Bad Hersfeld während ihrer achtstündigen Arbeitszeit in Stühlen sitzen, stehen Gabriel und seine Kolleg:innen in Bratislava ihre Zehn-Stunden-Schichten. Während Gangl keine Produktivitätsvorgaben mehr erfüllen muss, kämpft Gabriel täglich um die Erfüllung seiner Quoten.

„Alles drehte sich um Produktivität“, sagt er. „Es war schwer für mich. Es war so stressig, unter diesem Druck zu arbeiten.“

Gabriel hoffte, den Job so lange wie möglich behalten zu können. Aber dazu musste er seine Quote erhöhen. Er erinnert sich an den 22. Oktober 2017, seinen 19. Tag als Amazon-Mitarbeiter. Es war eine besonders stressige Schicht. Ein Manager mit einem Stapel Papiere, auf denen die geforderten Zahlen aufgelistet waren, „kam immer wieder zu uns, um zu überprüfen, ob wir die Produktivitätsziele erreichen“, sagte er. „Die ganze Zeit.“ Und so arbeitete Gabriel schneller, packte die auf einem Fließband ankommenden Kartons aus und legte die darin befindlichen Artikel drei- oder viermal pro Minute in Behälter in der Nähe. Nach der Hälfte seiner Schicht begann Gabriel, sich „wirklich krank“ zu fühlen, sagt er. Ihm war schummrig, schwindlig und er war plötzlich müde. Er spürte einen Schmerz in der Brust. Er sagte, er sei zur Krankenstation gegangen, aber in dieser Nacht war kein:e Ärzt:in da, also beschrieb er seine Symptome einem Manager und einem Vertreter der Personalabteilung, die ihm Kaffee gaben. „Ich nehme an, dass sie in gewissem Maße besorgt waren, aber es fühlte sich nicht angemessen an“, sagt er.

Die Müdigkeit und die Schmerzen wurden immer stärker, während er dort saß. Er sagte ihnen, er wolle ins Krankenhaus fahren. Sie riefen ihm ein Taxi. „Als wir die Notaufnahme betraten, wurde ich ohnmächtig, und die Ärzte mussten mich wiederbeleben“, sagte er. „Dann sagten sie mir, dass ich einen Herzinfarkt hatte und dass ich buchstäblich in letzter Sekunde hier hergekommen bin“. Ein Arbeitskollege und ein Gewerkschaftsvertreter bestätigten seine Aussage. Er kam fünf Monate lang nicht auf die Beine. Dann kehrte er zu seinem Job im Amazon-Lager zurück. „Und wieder landete ich im Krankenhaus“, sagt er. Diesmal war es kein Herzinfarkt, sondern nur ein Erschöpfungsanfall. Danach gab er den Job auf und arbeitet jetzt als Wachmann für weniger Geld, als er bei Amazon verdiente. „Wenn ich zu 100 Prozent gesund wäre“, sagte er, „hätte ich vielleicht den Job bei Amazon behalten können“.

Die Quoten werden jeden vierten Mittwoch bekannt gegeben. Die Mindestquoten werden jede Woche auf der Grundlage des 80. Perzentils der Leistungsträger der vorherigen Woche festgelegt; mit anderen Worten: Das unterste Fünftel der Arbeitnehmer:innen musste seine Produktivität steigern, um einen Verweis zu vermeiden, der in der Unternehmenssprache „Feedback“ genannt wird. Wie das Mitarbeiterhandbuch warnt, wurde einer mitarbeitenden Person die Kündigung empfohlen, wenn er oder sie innerhalb eines Jahres sechs „Feedbacks“ erhielt. Während eines zwölfwöchigen Zeitraums, vom 7. März bis zum 30. Mai 2018, stiegen laut internen Tarifblättern, die von BuzzFeed News US eingesehen wurden, die stündlichen Verarbeitungsquoten für 37 von 93 Arbeitsplätzen in den Lagern in Posen. So mussten Verpacker:innen von kleinen und mittleren Artikeln statt 104 Artikeln nun 116 in einer Stunde verpacken, Kommissionierer:innen von kleinen Artikeln statt 107 nun 120, Einlager:innen von kleinen Artikeln statt 269 nun 322 und Sortierer:innen statt 472 nun 500. Die Mindestsätze sanken nur bei vier Tätigkeiten. „Wie die meisten Unternehmen haben auch wir Leistungserwartungen an jeden Amazonianer – egal ob es sich um eine:n Mitarbeiter:in des Unternehmens oder eine:n Mitarbeiter:in des Fulfillment Centers handelt – und wir messen die tatsächliche Leistung an diesen Erwartungen“, so Eichenseher. „Die überwiegende Mehrheit unserer Mitarbeiter:innen erreicht ihre Ziele problemlos.“

Von Anfang an müssen Amazon-Beschäftigte in Polen mit ihren Kolleg:innen konkurrieren, um ihren Arbeitsplatz zu behalten. Bewerber:innen, die auf der Amazon-Website nach Einstiegsjobs in Posen oder Breslau suchen, werden an Zeitarbeitsfirmen weitergeleitet, die dem Unternehmen Arbeitskräfte mit einmonatigen Verträgen zur Verfügung stellen. In Polen sind 39 Prozent der Arbeitnehmer:innen mit „niedrigem Status“ über Zeitarbeitsfirmen beschäftigt, dreimal so viel wie in Deutschland. Zeitarbeitskräfte, die drei einmonatige Subverträge in Folge abschließen, was nach polnischem Recht die Höchstgrenze ist, erhalten die Chance auf einen einjährigen Vollzeitvertrag mit Krankenversicherung und anderen betrieblichen Leistungen, sofern sie eine dreimonatige Probezeit überstehen, in der Amazon sie rechtmäßig aus jedem Grund entlassen kann. Diejenigen, die nach Ablauf ihres Einjahresvertrags weiterbeschäftigt werden, erhalten einen unbefristeten Vertrag, der einen besseren Kündigungsschutz bietet, wie es auch die Vorschriften der Europäischen Union zur Begrenzung befristeter Arbeitsverhältnisse vorsehen. Erfahrene Mitarbeiter:innen mit unbefristeten Verträgen lernen, ein Tempo einzuhalten, das die Wochenquote gerade noch erreicht, um deren Wachstum zu minimieren. Einige veranstalten inoffizielle Wettkämpfe, wer am nächsten an die Mindestquote herankommt, ohne sie zu unterschreiten, sagten zwei Arbeiter:innen. Aber die Mitarbeiter:innen mit Kurzzeitverträgen, die in manchen Monaten mehr als die Hälfte der Belegschaft des Lagers in Posen ausmachen, wissen nicht, welche Quote sie erreichen müssen, um wieder eingestellt zu werden, wenn ihr Vertrag ausläuft – sie wissen nur, dass Amazon eine unbestimmte Anzahl der leistungsstärksten Mitarbeiter behalten wird, basierend auf den neuesten Versandprognosen.

2018 ordnete die Arbeitsaufsichtsbehörde des Landes Polen, bekannt unter ihrem polnischen Akronym PIP, einen Test zur Messung des Energieverbrauchs von Amazon-Arbeiter:innen an. Beamte der PIP-Forschungsabteilung für Arbeitsumwelt in Danzig kamen am 20. Juni in Posen an. Zwei Tage lang schlossen sie Arbeiter:innen an fünf Stationen an ein Gerät namens MWE-1 an, eine Gummimaske, die an einer röhrenförmigen Maschine befestigt ist, die die Atmung misst, um die während einer Schicht verbrannten Kilokalorien zu berechnen. Ähnliche Tests waren auch in anderen Einrichtungen im ganzen Land geplant. Insgesamt wollte die Behörde das Energieniveau von elf verschiedenen Amazon-Lagerarbeitsplätzen messen. Tätigkeiten, die mindestens 1500 Kalorien bei Männern oder 1000 Kalorien bei Frauen verbrauchen, werden als „schwer“ eingestuft und erfordern nach polnischem Arbeitsrecht bestimmte Bedingungen: Nachtschichten dürfen nicht länger als acht Stunden dauern, die Arbeitgeber:innen müssen mindestens eine kostenlose Mahlzeit anbieten, und die Arbeitnehmer:innen müssen zwischen den Schichten mindestens elf Stunden Ruhezeit haben. Amazon behauptete, basierend auf seinen eigenen Messungen, dass keiner seiner Arbeitsplätze schwer sei. Zum Zeitpunkt der Prüfung durch die Aufsichtsbehörde im Juni 2018 wurde in den Warenlagern von Amazon in Posen und Breslau bereits jeweils mindestens eine Energiemessung vorgenommen, und zwar auf gerichtliche Anordnung im Zusammenhang mit Klagen wegen unrechtmäßiger Kündigung. Die von Envilab, einem privaten Forschungslabor, durchgeführten Tests ergaben, dass 18 der 20 Arbeitsplätze, die am 27. April 2015 in Breslau gemessen wurden und neun der 36 Arbeitsplätze, die am 12. April 2018 in Posen gemessen wurden, als schwer eingestuft werden müssen. Eine Frau in Posen verbrauchte 1068 Kalorien, ein Mann in Breslau 1986 Kalorien und die Mitarbeiter im Sortier-Team in beiden Lagern mehr als 1600 Kalorien. Laut Gesetz können die Ergebnisse als Beweismittel in einzelnen Gerichtsverfahren verwendet werden, jedoch nicht für eine Durchsetzung gegen die Praktiken des Unternehmens.

Der Test der Aufsichtsbehörde ergab sogar noch höhere Werte. Von den elf untersuchten Arbeitsplätzen wurden sieben als schwer eingestuft, was laut der Behörde „die zulässigen Normen“ für eine zehnstündige Nachtschicht überschritt. Ein Arbeiter in der „Rebin“-Abteilung verbrauchte 2087 Kalorien, ein Verpacker 3056. Danuta Rutkowska, eine Sprecherin der nationalen Arbeitsaufsichtsbehörde, sagte gegenüber BuzzFeed News US, dass „Vertreter von Amazon Bereitschaft zur Zusammenarbeit zeigen“, dass die Behörde aber keine Beweise dafür habe, dass das Unternehmen das Problem der Energieverausgabung an den Arbeitsplätzen angegangen sei. „Dieses Problem bleibt im Fokus der weiteren Arbeit von PIP“, sagte Rutkowska.

Amazon vertritt eine andere Ansicht zu den Ergebnissen der Inspektion. „Wir sind mit der Einschätzung von PIP nicht einverstanden“, sagte Sprecher Eichenseher. „Bis heute gibt es keine Arbeitsplätze, an denen der Energieaufwand überschritten wurde.“

Als es an der Zeit war, Mitarbeiter:innen zu entlassen, teilte der Personalverantwortliche des Stettiner Lagers jedem:r von ihnen die Nachricht in einem kleinen, ungemütlichen Raum im Erdgeschoss mit. In den Amazon-Lagern in ganz Mitteleuropa lief das Verfahren genauso ab. Im Lager in Bratislava in der Slowakei nennen die Arbeiter:innen den kleinen fensterlosen Raum im Erdgeschoss „samotka“, das slowakische Wort für eine Gefängniszelle mit Einzelhaft. Der Vertreter der Personalabteilung schob damals ein Blatt Papier über den Tisch und sagte dem Mitarbeiter, dass es wahrscheinlich das Beste sei, wenn er es unterschreibe. Das Dokument besagte, dass die Trennung auf Gegenseitigkeit beruhte – ein freiwilliger Austritt, keine Entlassung und daher nicht Gegenstand einer Abfindung, einer Kündigungsfrist oder einer rechtlichen Anfechtung. „Wir haben die Leute gedrängt, die gegenseitige Vereinbarung zu unterschreiben“, sagte er. Mit der Unterschrift würde der Mitarbeiter in gutem Ansehen bei Amazon verbleiben und könnte sich nach drei Monaten wieder um eine Stelle bewerben; seine Arbeitsbescheinigung, ein lebenslaufähnliches Zeugnis, das die Arbeiter in den meisten Branchen in Mitteleuropa begleitet, würde zeigen, dass er aus eigenem Antrieb gegangen ist und nicht aus Leistungs- oder disziplinarischen Gründen entlassen wurde. Viele weinten in dem Raum, sagte er. Ein Mann drohte, ihn umzubringen. „Habe ich mich schuldig gefühlt? Ja. Es gab viele Fälle, in denen ich mich schuldig fühlte“, sagte der Personalvertreter. „Der Job nicht viel Mitgefühl in mir zugelassen.“

Der Personaler sagte, er habe keinen Einfluss darauf, wer entlassen wird. Kündigungen und Vertragsverlängerungen werden von einem Algorithmus diktiert, der nur die Produktivitätsraten und Abwesenheiten misst. Am Ende eines jeden Monats sahen er und andere Manager eine Tabelle mit Namen und Statistiken ein. Diejenigen, die grün markiert waren, waren sicher; die rot markierten würden jedoch ihren Job verlieren.

Der Personalleiter schätzt, dass er im ersten Jahr in Stettin 350 Arbeitnehmer:innen gekündigt hat. Er entließ Arbeitnehmer:innen, die in drei Monaten mehr als sechs oder in einem Monat mehr als drei Krankheitstage in Anspruch nahmen. Er entließ jede:n, der oder die innerhalb eines Zeitraums drei unentschuldigte Abwesenheiten hatte. Er entließ Arbeitnehmer:innen, die sechsmal in einem Jahr oder vier Wochen hintereinander ihre Quoten verfehlten, selbst wenn sie durchweg 90 bis 99 Prozent der Zielvorgaben erreichten. „Wir hatten ältere Leute, 60 Jahre oder älter, die gute Quoten erreichten und ihr Bestes gaben und arbeiten wollten, aber es war einfach physisch unmöglich für sie, die gleichen Zahlen zu erreichen wie jüngere Leute“, sagte der ehemalige Personalvertreter, der um Anonymität bat, um seine berufliche Beziehung zum Unternehmen zu wahren. „Darauf war ich nie stolz.“

Er sagte, er habe die Arbeitnehmer:innen aufgefordert, die Dokumente zu lesen, ihnen aber nicht ausdrücklich gesagt, welche Rechte sie mit ihrer Unterschrift aufgeben würden. Gewerkschaftsvertreter:innen in Polen, der Slowakei und Tschechien berichteten, dass sie Anrufe von gerade entlassenen Arbeitnehmer:innen erhielten, die hofften, ihre Entlassung rückgängig machen oder eine Abfindung kassieren zu können, um dann festzustellen, dass sie nichts tun konnten. „Die meisten Menschen kennen ihre Rechte nicht, und Amazon nutzt das aus“, sagte Ivo Mayer, Vorsitzender der Gewerkschaft ZO OSPO, die rund 100 Amazon-Mitarbeiter:innen in Tschechien vertritt.

In einer Antwort auf Fragen für diesen Artikel verteidigte Amazon seine Kündigungspolitik. „Wir würden niemals ein Arbeitsverhältnis ohne einen klaren und triftigen Grund beenden“, sagte Sprecher Eichenseher. Mindestens drei Arbeitnehmer:innen in Polen, die keine solchen gegenseitigen Vereinbarungen unterzeichnet haben, haben Amazon wegen unrechtmäßiger Kündigung verklagt und gewonnen. Im Fall von Joanna Piotrowska, einer Mitarbeiterin aus Posen, die 2016 nach ihrem vierten unentschuldigten Fehltag (innerhalb von zehn Monaten) entlassen wurde, befand ein Richter, dass Amazons Entscheidung „keinen triftigen Grund für die Beendigung des Arbeitsvertrags darstellt“, da das Unternehmen nicht nachweisen konnte, dass ihre Abwesenheit zusätzliche Kosten für sein Geschäft verursacht hatte, so das Gerichtsurteil. Amazon wurde angewiesen, ihr 1241 Dollar zu zahlen und ihr ihren Arbeitsplatz zurückzugeben. Im Fall von Agnieszka Kukułka, einer Mitarbeiterin aus Posen, die 2017 entlassen wurde, nachdem ein Vorgesetzter sie beim Verteilen von Gewerkschaftsflugblättern erwischt hatte, entschied ein Richter, dass die Kündigung rückgängig gemacht werden muss, da Amazon fälschlicherweise behauptet hatte, dass ihr Verhalten ein Sicherheitsrisiko darstelle. Nachdem Maciej Gorajski, ein Verpacker in Posen, 2016 entlassen worden war, weil er die Produktivitätsquoten nicht erfüllt hatte, entschied ein Richter, dass Amazons Praxis, Mitarbeiter:innen zu entlassen, wenn sie die ständig steigenden Standards, die durch die Leistung anderer Personen bestimmt werden, nicht erfüllen, „als rechtswidrig angesehen werden sollte“, da sie darauf abzielt, dass die langsamsten Arbeitnehmer auf der Grundlage ständig wechselnder Erwartungen regelmäßig entlassen werden würden. „Es ist jetzt schon davon auszugehen“, schrieb Richter Michał Włodarczak, „dass nicht alle Arbeitnehmer:innen die mit einer solchen Methode berechnete Obergrenze erreichen werden und dass dies dazu dient, die am wenigsten effizienten Personen auszuschließen. Bei einer solchen Struktur ist es nicht möglich, dass alle Arbeitnehmer:innen ein Minimum erreichen, vor allem, weil sie dieses Minimum meistens gar nicht kennen.“ Die Politik, so Włodarczak, sei „ein Beispiel“ für einen Arbeitgeber, der sich „nur um den Profit kümmert“.

In seiner vierten Schicht im Amazon-Lager in Stettin, Polen, arbeitete Stanisław Jankowski langsamer als sonst. Er war 69 Jahre alt und geriet zunehmend in Rückstand. Jankowski war erst acht Tage zuvor eingestellt worden, so Eichenseher, der Amazon-Sprecher.

Zwei Amazon-Manager, die sich die Sicherheitsaufzeichnungen aus jener Nacht im Februar 2018 ansahen, sagten, dass Jankowski während der Nachtschicht zunehmend lethargisch wirkte und dass sein Vorgesetzter ihn mindestens dreimal ansprach, um ihn zu ermutigen, schneller zu arbeiten.

Das Warenlager in Stettin war 2017, als es eröffnet wurde, das technologisch fortschrittlichste Warenlager von Amazon in Europa. Es war das größte auf dem Kontinent und mit einer Roboteranlage ausgestattet, die den Versandprozess stark beschleunigte, die Lagerkapazität um 50 Prozent erhöhte und die schwerste Aufgabe innerhalb der Logistik des Unternehmens übernahm – anstatt dass die Mitarbeiter:innen täglich 15 bis 20 Kilometer laufen mussten, um Artikel aus den Regalen zu holen, brachten die 3000 Roboter die Regale zu ihnen. In der Ankündigung zur baldigen Eröffnung des neuen Lagers stellte das Unternehmen das Lager als einen Blick in eine Zukunft dar, in der Produktionsziele und Arbeitsbedingungen im Einklang stehen würden. Die Arbeiter:innen in Stettin mussten jedoch bald feststellen, dass dies nicht der Fall war. Jankowski arbeitete als Kommissionierer und verbrachte seine Schichten in einer Station, die in etwa so groß war wie ein Motel-Badezimmer. Sie wird von den Angestellten „der Käfig“ genannt, weil sie von einem Stahlzaun umgeben ist. Mit einem Computermonitor vor sich musste er Artikel aus gelben Regalen, die an den Käfig heranrollten, herausnehmen, den Barcode mit einem Handscanner erfassen, sich umdrehen und ihn in einen der schwarzen Behälter auf dem Rollband unter dem Computer legen. Diesen Bewegungszyklus wiederholte er während seiner 10,5-stündigen Schicht hunderte Male, nur unterbrochen von zwei 15-minütigen Pausen und einer 30-minütigen Mittagspause. „Es ist einfach so ermüdend und extrem anstrengend“, sagte ein Kommissionierer aus Stettin, der um Anonymität bat, weil er fürchtete, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Nach dem Ende seiner Schicht um vier Uhr morgens marschierte Jankowski zusammen mit Dutzenden anderer Mitarbeiter:innen zum Umkleideraum, ein Gesicht unter vielen. Während die anderen um ihn herum ihre Arbeitswesten auszogen, ihre Handys aus den Schließfächern holten und sich auf den Weg zu den Bussen auf dem Parkplatz machten, saß Jankowski auf der Holzbank und lehnte sich mit dem Gesicht in den Händen nach vorne, so die beiden Manager, die das Filmmaterial gesehen haben, gegenüber BuzzFeed News US. Innerhalb weniger Minuten hatte sich der Raum bis auf ihn geleert. Plötzlich kippte er auf die Seite und stürzte auf den Boden. Ein Mitarbeiter fand ihn gegen 4:30 Uhr morgens auf dem Boden der Umkleidekabine liegend. Sanitäter brachten ihn ins Krankenhaus, wo er für tot erklärt wurde. Nachdem der Gerichtsmediziner festgestellt hatte, dass der Tod auf Herzversagen zurückzuführen war, stellte die örtliche Staatsanwaltschaft den Fall ein und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Unfalltod handelte, sodass Amazon strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte. In den darauffolgenden Jahren sind mindestens zwei weitere Amazon-Mitarbeiter in Polen, beide in Posen, während der Arbeitszeit gestorben. In beiden Fällen stuften die Staatsanwälte die Todesfälle ebenfalls als Unfälle ein.

Am Tag von Jankowskis Tod informierten die Manager:innen die Beschäftigten über den Vorfall. Das Unternehmen stellte Trauerbegleiter:innen zur Verfügung. Es hat keine Gedenkfeier an dem Standort gegeben. Die Arbeit ging weiter. Einige Tage später kamen seine Frau und seine älteste Tochter im Warenlager an, um seine Sachen aus seinem Spind zu holen. Ein leitender Angestellter und der Leiter der Personalabteilung begrüßten sie in der Lobby und drückten ihnen ihr Beileid aus. Einem Zeugen der Begegnung zufolge ist ihnen Wut entgegengeschlagen. „Sie haben unseren Vater getötet!“ sagte Jankowskis Tochter zu den Amazon-Repräsentanten, die mit fassungslosem Schweigen reagierten. Die Frauen gingen unter Tränen in die Umkleidekabine, sammelten sein Handy und seine Schlüssel ein und machten sich dann auf den langen Weg zurück zu ihrem Auto, um nach Hause zu fahren. An einem Nachmittag mehr als ein Jahr später drängten sich Dutzende von Arbeiter:innen unter einer Markise vor dem Stettiner Warenlager und rauchten vor ihrer Schicht Zigaretten. Nur wenige waren lange genug bei der Arbeit, um sich an den Todestag von Jankowski zu erinnern. Keiner wusste seinen Nachnamen, aus welcher Stadt er stammte oder wie er aussah, aber, wie ein Arbeiter es ausdrückte: "Jeder weiß, was mit ihm passiert ist."

In Interviews mit BuzzFeed News US konnten sich weder der Personalreferent in Stettin, der Jankowski eingestellt hatte, noch der leitende Manager, der seine Abteilung beaufsichtigte, an irgendwelche Interaktionen mit ihm erinnern. „Diese Leute werden anonym“, sagte der Personalvertreter. „Sie sind nur Nummern.“

Autor ist Albert Samaha unter der Mitarbeit von Marcin Krasnowolski, Lukáš Onderčanin, Nina Sobotovičová, und Jakub Palata. Der Artikel erschien am 23. Juni auf buzzfeednews.com Aus dem Englischen übersetzt von Leon Lobenberg.